Reinrassiger Wahnsinn - 85 Jahre Verkündung der „Nürnberger Gesetze“

Am 15. September 1935 bellte Hermann Göring, „Reichsjägermeister“ und Präsident des nominell noch existierenden Reichstags, im Kulturvereinsbau am Frauentorgraben den Entzug der staatsbürgerlichen Rechte für „Nichtarier“ und das Verbot ihres „Verkehrs“ mit „Ariern“ ins Mikrofon und löste damit bei den anwesenden NS-Abgeordneten hysterischen Jubel aus. Diese bedankten sich anschließend bei ihrem ebenfalls der Sitzung beiwohnenden „Retter und Schöpfer“ Adolf Hitler dafür.

Erinnerungsbanner 2015 im Stadtarchiv Nürnberg

Die eilig vor Ort zusammengeschusterten pseudolegalen Grundlagen für die größte Verfolgungs- und Vernichtungsaktion der Neuzeit sind nicht nur für immer mit dem Namen Nürnbergs verbunden, sie betrafen auch seine Einwohnerinnen und Einwohner. Unter ihnen sind die Schicksale der vor 1935 geschlossenen, fortan als „Mischehen“ geltenden Partnerschaften die schlagendsten Beispiele für den Irr- und Widersinn des Rassenwahns. Dabei spielte die Religion keine Rolle: Wer wie sehr jüdisch war, bestimmten die Nazis.

Nach Erlass der „Nürnberger Gesetze“ verzeichnete das Stadtarchiv einen regelrechten Boom wegen des nicht mehr nur für bestimmte Gruppen wie Beamte notwendigen „Ariernachweises“, der die Benutzungen 1935 im Vergleich zum Vorjahr um 500 auf 2400 hochschnellen ließ. Um den Zuwachs zu bewältigen, wurde dauerhaft eine „Beratungsstelle für Sippenforschung“ mit mehreren Mitarbeitern eingerichtet. Sie sollte dabei helfen, möglichst keine jüdischen Großeltern zu finden, sonst galt man wie im Tierreich als Voll-, Halb-, Viertel- oder Achteljude und war aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen.

„Mischehen“ boten dem „nichtarischen“ Teil eine gewisse Sicherheit vor den wachsenden Repressionen - solange der „arische“ Partner sich nicht scheiden ließ oder starb.

Ein Fall, in dem der Ehemann loyal zu seiner Partnerin stand, waren der spätere Nürnberger Oberbürgermeister Otto Bärnreuther (1908 - 1957) und seine Gattin Felicie, geborene Ehmann (1903 - 1987), die noch im Februar 1933 nach der Machtübernahme der Nazis geheiratet hatten. Bärnreuther wurde wegen seiner „jüdischen Versippung“ und Tätigkeit in der SPD und Gewerkschaft 1934 von der Stadt entlassen. Obwohl die Verbindung im Nazijargon als „privilegierte Mischehe“ galt, weil der Mann „Arier“ war, musste er nach Ende seines Kriegsdienstes 1942 die Einberufung zur Zwangsarbeit befürchten, der er nur knapp entging. Seit 1946 Stadtrat und 1952 Oberbürgermeister gestaltete er bis zu seinem plötzlichen Tod wesentlich den Wiederaufbau Nürnbergs mit.

Nicht alle mit als Juden geltenden Menschen Verheirateten hielten der Hetze Stand. So wurde die 1924 geschlossene Ehe von Philipp Petschenik (geb. 1893 in Nürnberg) auf Betreiben seiner Frau im Mai 1939 geschieden. Nach der Aussage seiner Nichte Anni entledigte sie sich durch die erleichterte Scheidung von „Mischehen“ ihres Gatten, dessen Eltern bereits zum Christentum übergetreten waren, der für die Machthaber trotzdem ein „Volljude“ war und deshalb im März 1942 nach Polen verschleppt und ermordet wurde. Seine Ex-Frau und ihre drei Töchter - „Mischlinge I. Grades“ - nahmen ihren Mädchennamen an und überlebten den Krieg unbeschadet.

Es waren aber auch jüdische Partner, die sich dem Druck seelisch nicht gewachsen zeigten, wie Louise Hartner, 1882 in Neumarkt geboren und durch ihren ersten verstorbenen Mann Ludwig Levy Miterbin des Kaufhauses Tietz, besser bekannt als Kaufhaus Weißer Turm. Sie bewohnte mit ihrem zweiten Ehemann, dem christlichen Kaufmann und Kunstmaler Theo Hartner, seit 1935 die luxuriöse Villa in der Dutzendteichstraße 24. Dort beging sie am 7. Dezember 1938, kurz nach den Gewaltexzessen der „Kristallnacht“, Selbstmord, angeblich indem sie sich erhängte.

Wie ihre Eltern waren auch die als „Mischlinge“ klassifizierten Kinder vielerlei Gefahren ausgesetzt. Deren Grad hing davon ab, ob sie zu den „Sternträgern“ zählten, d.h. der 1941 eingeführten Stigmatisierung durch den „Judenstern“ unterlagen, der sie zum Ziel körperlicher und verbaler Angriffe machte. Der 1922 geborene Nürnberger Ernst Regensburger, Sohn eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter, wurde verhaftet, weil er dieses Schandmal in der Öffentlichkeit verborgen hatte und wegen „Nichteinhaltens der Kennzeichnungspflicht“ vom Judenreferenten der Nürnberger Gestapo, Hans Macht, persönlich zunächst ins Gefängnis eingewiesen, von wo man ihn am 21. August 1944 ins KZ Auschwitz brachte. Derselbe erbarmungslose Gestapomann behauptete bei seiner „Entnazifizierung“ nach 1945, er habe durch das Verschwindenlassen der Namensliste die geplante Deportation aller Nürnberger „Mischehen“ ins Lager Theresienstadt verhindert, wie sie in München, Augsburg und Regensburg stattgefunden hat. Viel plausibler ist, dass die Aktion in Franken nicht durchgeführt wurde, weil Nürnberg im Februar 1945, als aus den genannten Städten die Züge nach Osten rollten, am 20. und 21. von schweren US-Luftangriffen betroffen war, die die noch vorhandene Verkehrsinfrastruktur weitestgehend zerstörten.

Ernst Regensburger wurde im April 1945 auf einem Todesmarsch in Tirol mehr tot als lebendig befreit und wanderte 1947 in die USA aus. Er heiratete Anni, die Nichte von Philipp Petschenik, die selbst aus einer „Mischehe“ stammte. Ihre Eltern hatten zusammengehalten und sogar im Rahmen ihrer Möglichkeiten - rationierte Bedarfsgüter waren ihnen während des Krieges im Vergleich zu den deutschen „Volksgenossen“ nur eingeschränkt zugänglich - „Volljuden“ bis zu deren Deportation unterstützt. Sie mussten erleben, wie wegen der „Nürnberger Gesetze“ ihre jüdischen Verwandten und Freunde verjagt oder umgebracht wurden.

Der 20. April 1945 war für die „Mischlinge“ in Nürnberg zweifellos der Tag der Befreiung. Doch mit ihm endete nicht der in Teilen der Bevölkerung tief verwurzelte Antisemitismus, dessen sich die Nazis bedienen konnten: Der Nürnberger KZ-Heimkehrer Herbert Kolb war vor der Emigration hier mit einem nichtjüdischen Mädchen befreundet. Als sich die Verbindung in ihrem Umfeld herumsprach, wurde sie als „Judenliebchen“, „Judenhure“ oder „das Schwein, das mit einem Juden geht“ beschimpft.

Vor fünf Jahren zeigte das Stadtarchiv in seinem Foyer auf einem Erinnerungstransparent unter dem Motto „Rassismus ist Gegenwart“ eine Collage, deren Elemente überwiegend aus den Beständen E 39/I „Stürmer“-Archiv und E 39/II „Stürmer“-Archiv Anhang stammen (s. Abb., Design: Herbert Kulzer, Stadtgrafik): Die „Nürnberger Gesetze“ sind Vergangenheit, doch ihr Ungeist lebt weiter, wie allein ein Blick ins Internet beweist.

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