Julius Streicher und der „Stürmer“

Vor 100 Jahren – Julius Streicher gründet den „Stürmer“

„The most infamous newspaper in history“

Am 20. April 1923 veröffentlichte der Nürnberger Volksschullehrer Julius Streicher die erste Ausgabe des „Stürmers“ – eben jener Zeitung, die durch ihre üble antisemitische Hetze traurige Berühmtheit erlangen sollte.

Interne Machtkämpfe

Mit der Gründung des „Stürmers“ verfolgte Julius Streicher im April 1923 zunächst jedoch ganz andere Ziele. Nachdem er sich mit seinen Anhängern im Oktober 1922 der NSDAP angeschlossen hatte, galt er als Kopf der nationalsozialistischen Bewegung in Franken. Allerdings war seine starke Stellung keineswegs unumstritten. Im Gegenteil: In der Nürnberger NSDAP herrschten zahlreiche interne Streitigkeiten und Machtkämpfe. So befand sich Streicher im Dauerstreit mit seinem vormaligen Kollegen Walter Kellerbauer sowie einer Gruppe ehemaliger Mitstreiter um Wolfgang Preßl, Ferdinand Bürger und Baron Georg von Schlieben.

Im April 1923 eskalierte der Konflikt. Wolfgang Preßl hatte am 14. April 1923 zu einem „Enthüllungsabend“ eingeladen, wo er schwere Vorwürfe gegen Streicher erhob. Er bezichtigte Streicher der Feigheit, warf ihm die Misshandlung seiner eigenen Ehefrau sowie die Veruntreuung von Parteigeldern vor.

Streichers Kampf um sein politisches Überleben

Julius Streicher – ohnehin seit Längerem im Kreuzfeuer der Presse – veranstaltete vier Tage später eine Gegenveranstaltung, um sein stark beschädigtes Ansehen zu retten. Da diese weitgehend unbeachtet blieb, entschied er sich für ein anderes Mittel um sich öffentlich gegen die erhobenen Anschuldigungen zu verteidigen.

Am 20. April 1923 veröffentlichte Streicher ein sechsseitiges Flugblatt mit dem Titel „Der Stürmer – Sonderblatt zum Kampfe um die Wahrheit“. Die Titelseite ließ eindeutig die Intention hinter dieser Veröffentlichung erkennen. Unter der Schlagzeile „Streicher’s Antwort an die Verleumder und Verräter!“ folgten Stellungnahme und Gegenangriffe Streichers gegen Preßl, Bürger und von Schlieben.

Titelseite der ersten Ausgabe des „Stürmers“ (Stadtarchiv Nürnberg, F 4 Nr. 1650)

Entsprechend kommentierte die sozialdemokratische Fränkische Tagespost das Erscheinen des „Stürmers“:

„Der von Preßl hart zerzauste Streicher [hat] dieser Tage ein Flugblatt geschrieben, das er für teures Geld seinen noch übrig gebliebenen Getreuen verkauft.“

Fränkische Tagespost vom 27.04.1923

Persönliches Forum Streichers zur Diffamierung politischer Gegner

Bevor der „Stürmer“ zum Inbegriff übelster antisemitischer Propaganda wurde, diente er Streicher als persönliches Instrument zur Verleumdung und Diffamierung politischer Gegner. Nachdem er seine Widersacher aus dem völkischen Spektrum ins Visier genommen hatte, wandte sich Streicher bereits in der zweiten Ausgabe des „Stürmers“ dem Nürnberger Oberbürgermeister Hermann Luppe zu. In den folgenden Jahren verbreitete der „Stürmer“ dauerhaft Lügen und Beleidigungen gegen Luppe. Von Beginn an dabei: Die Unterstellung, Luppe sei jüdischer Abstammung bzw. selbst Jude.

Titelseite der 6. Ausgabe des "Stürmers" (Stadtarchiv Nürnberg, F 4 Nr. 1650)

„Sex and crime“ – Radikaler, pornographisch aufgeladener Antisemitismus als Erfolgsrezept

Bereits ab der fünften Ausgabe verbreitete der „Stürmer“ vulgäre und sexuell aufgeladene antisemitische Hetze in Form von Skandalgeschichten, die – zusammen mit den seit 1925 abgedruckten Karikaturen des „Stürmer-Juden“ von Philipp Rupprecht – das Erscheinungsbild des Blattes bestimmten. Die andauernd wiederholten Themen „Rassenschande“, Ritualmord und Vergewaltigung wurden dabei zum Erfolgsrezept des „Stürmer“.

Auszug aus dem Stürmer als Beweismittel bei den Nürnberger Prozessen (Stadtarchiv Nürnberg A 80 Nr. A80-861, Bild geringfügig bearbeitet)

Vom Lokalblatt zur Millionenauflage

Zunächst als Lokalblatt mit etwa 2.000 Exemplaren gestartet, betrug die Auflage des „Stürmers“ gegen Ende der Weimarer Republik rund 10.000 Stück. Nach 1933 verbreitete sich der „Stürmer“ rasant, wozu auch der Aushang in eigens errichteten Schaukästen, den sogenannten „Stürmer-Kästen“ oder ein Abnahmeabkommen Streichers mit den Betrieben der Deutschen Arbeitsfront beitrugen. Mit über 486.000 Exemplaren hatte der „Stürmer“ im Oktober 1935 seine höchste Auflage erreicht, wobei Sonderausgaben zu den Reichsparteitagen auch bis zu zwei Millionen Mal gedruckt wurden. Während des Krieges wurden immer noch etwa 300.000 Exemplare pro Woche vertrieben. Die Herausgabe des „Stürmers“, der sich in seinem Privateigentum befand, brachte Streicher enorme finanzielle Gewinne ein, nur wenige Jahre nach der „Machtergreifung“ wurde er zum Millionär.

Mann vor einem "Stürmer-Kasten" in Schlesien (Stadtarchiv Nürnberg E 39/I Nr. 61/2)

Julius Streicher als Hauptangeklagter bei den Nürnberger Prozessen

Am 22. Mai 1945 hatte der amerikanische Major Henry Plitt Julius Streicher beim österreichischen Waidring verhaftet. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde Streicher wegen der Beteiligung an einem Plan zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden (Anklagepunkt 1) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Anklagepunkt 4) angeklagt. Seine Verteidigungsstrategie, Inhalte und Wirkung des „Stürmers“ zu verharmlosen, verfing nicht.

Julius Streicher am Schreibtisch in seiner Zelle (Stadtarchiv Nürnberg A 80 Nr. A80-904)

Deutlich trat hingegen Streichers krankhafter Antisemitismus hervor. Der Gerichtspsychiater Douglas Kelley stellte fest:

„Streichers Antisemitismus war reine Besessenheit, medizinisch gesehen eine echte paranoide Reaktion. […] Ständig zerbrach er sich den Kopf über die jüdische Verschwörung. Vierundzwanzig Stunden täglich kreiste jeder seiner Gedanken und jede seine Handlungen um diese Idee.“

Daniel Roos: Julius Streicher und „Der Stürmer“ 1923-1945, Paderborn 2014, S. 478f.

Die Herausgabe des „Stürmer“ – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Am 1. Oktober 1946 wurde in Nürnberg das Urteil verkündet. Zwar hatte man Streicher vom Vorwurf der „Verbrechen gegen den Frieden“ freigesprochen, da ihm das Wissen um derartige Planungen nicht nachgewiesen werden konnte, für schuldig befunden wurde er aber der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Streicher habe mit der Herausgabe des „Stürmers“ über Jahrzehnte hinweg „die Gedankengänge der Deutschen mit dem Giftstoff des Antisemitismus“ vergiftet und Deutschland zur „aktiven Verfolgung“ der Juden aufgehetzt.

Julius Streicher im Zeugenstand beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1946 (Stadtarchiv Nürnberg A 65/I Nr. A65-I-RA-178)

Abschließend befand der Gerichtshof:

„Streichers Aufreizung zum Mord und zur Ausrottung, die zu einem Zeitpunkt erging, als die Juden im Osten unter den fürchterlichsten Bedingungen umgebracht wurden, stellt eine klare Verfolgung aus politischen und rassischen Gründen in Verbindung mit solchen Kriegsverbrechen, wie sie im Statut festgelegt sind, und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.“

Daniel Roos: Julius Streicher und „Der Stürmer“ 1923-1945, Paderborn 2014, S. 496.

Das Urteil, Tod durch den Strang, wurde am 16. Oktober 1946 vollstreckt.

In der Schlussbetrachtung seiner 2014 veröffentlichten Dissertation schreibt der Historiker Dr. Daniel Roos:

„Auch fast sieben Jahrzehnte nach dem Tod des „Frankenführers“ ist das von ihm verkörperte Gedankengut aus manchen Köpfen noch nicht verschwunden. Umso lohnender scheinen eine aufmerksame Auseinandersetzung mit den Hasstiraden des „Stürmer“ und ein Bewusstsein für die grausamen Folgen dieser Propaganda.“

Daniel Roos: Julius Streicher und „Der Stürmer“ 1923-1945, Paderborn 2014, S. 507.

Literaturhinweis: Daniel Roos: Julius Streicher und „Der Stürmer“ 1923-1945, Paderborn 2014.

Zum Bestand „Stürmer-Archiv“ im Stadtarchiv Nürnberg:

Das „Stürmer-Archiv“ gelangte 1951 in das Stadtarchiv Nürnberg. Es handelt sich jedoch nicht um ein Pressearchiv, die Registratur oder Geschäftsunterlagen des „Stürmers“, sondern vielmehr um eine Sammlung von Unterlagen und Bildmaterial, welche der Redaktion des „Stürmers“ von Sympathisanten weltweit zugesendet wurden. Daneben beinhaltet es auch die Originalzeichnungen des Karikaturisten „Fips“ Philipp Rupprecht.

Gerhard Jochem: Das „Stürmer“-Archiv: „Für Nürnberg und das Stadtarchiv ohne jedes Interesse“, in: NORICA. Berichte und Themen aus dem Stadtarchiv Nürnberg 2 (2006), S. 43-51 (zur Online-Fassung: Norica 2).

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