„Bibendum“ Norimbergam visitabat

„Nun lasst uns trinken“ lautet die Überschrift auf einem Werbeplakat der Firma Michelin aus dem Jahr 1898, auf dem ein aus einzelnen Reifen zusammengesetztes Wesen einen Kelch mit Nägeln und Scherben erhebt und damit seine beiden weniger trinkfesten Konkurrenten (wohl von den Firmen „Dunlop“ und „Continental“) unter den Tisch trinkt bzw. ihnen die Luft aus den Reifen lässt. Mit dem römischen Trinkspruch „Nunc est bibendum!“ („Nun lasst uns trinken“) beginnt der Siegeszug der wohl ältesten Werbefigur der Welt. Vorbild für den später folgenden Sarotti-Mohr, den Erdal-Frosch, den Salamander-Lurchi oder das ATA-Männchen.

Ideengeber für den später mit dem Spitznamen „Bibendum“ belegten Reifenmann waren die Gebrüder André und Édouard Michelin, die Gründer der in Clermont-Ferrand seit 1889 ansässigen gleichnamigen Reifenfabrik.

Auf einer Ausstellung in Lyon im Jahr 1894 fiel den beiden ein Stapel von in weiße Stoffhüllen verpackten Reifen auf, der sie an eine menschliche Figur denken ließ. Dieses Bild führten sie gemeinsam mit dem Graphiker und Karikaturisten O'Galop (eigentlich Marius Rossillon, 1867–1946) zu etwas in der damaligen Reklamewelt vollkommen Neuem zusammen: O'Galop nämlich arbeitete zu dieser Zeit an einem Werbeplakat für eine Brauerei, auf dem der lateinische, dem Dichter Horaz zugeschriebene Spruch „Nunc est bibendum“ Verwendung fand. Vereint mit der einem Reifenstapel ähnelnden Figur nahm die Idee Gestalt an und schließlich war „Bibendum“ geboren.

Überfallartiger Reklamefeldzug der Fa. Michelin am Kornmarkt in Nürnberg um 1930
(StadtAN E 10/151 Nr. 7-7-2).

Von O'Galop in den folgenden Jahren meisterhaft in zahlreichen äußerst modernen Werbeplakaten umgesetzt, verließ „Bibendum“ noch vor dem Ersten Weltkrieg die flache Plakatwelt, wurde durch menschliche Darsteller mit entsprechenden Kostümen zur realen Figur und trat im öffentlichen Raum bei verschiedenen Werbeaktionen auf, wovon sich auch im Bundesarchiv ein Beispiel finden lässt (Bundesarchiv Bild 102-12020, Juli 1931). Am beeindruckendsten, aber auch etwas bedrohlich, wirken die Fotos von gewaltigen Reklamefiguren auf verschiedenen Festwägen in Frankreich, wie z. B. bei Karnevalsumzügen in Nizza oder in Clermont-Ferrand.

Eine dieser frühen Public-Relations-Veranstaltungen fand vermutlich zu Beginn der 1930er Jahre vor den alten Hopfenhallen in Nürnberg am Kornmarkt 2 statt. Ein Werbefahrzeug der Fa. Michelin mit Reifendekoration und Aufdruck „Michelin Autoreifen“ sowie einer „Bibendum“-Figur auf dem Autodach parkt am Straßenrand während ein anderes verkleidetes Michelin-Männchen, augenscheinlich Prospektmaterial an die Zuschauer verteilt. Interessant wäre es zu wissen, ob die Aktion in der Tagespresse oder auf Litfaßsäulen angekündigt und beworben wurde, aber leider ist kein genaues Aufnahmedatum bekannt. Das Kennzeichen (VR 10285) auf dem PKW mit der Buchstabenkombination VR verweist auf die Provinz Rheinhessen und damit auf die Stadt Mainz, wo sich seit 1926 der Firmensitz der 1906 in Frankfurt am Main gegründeten „Deutschen Michelin Pneumatik Aktiengesellschaft“ befand. Ab dem Jahr 1931 wurde auch in einem eigenen Werk in Karlsruhe produziert.

Neben ihren Reifen vertrieb die französische Firma seit 1910 auch die deutsche Ausgabe des bekannten Restaurantführers „Guide Michelin“ und Straßenkarten. Die Merchandise-Figur „Bibendum“ fand hauptsächlich im Mutterland Frankreich reißenden Absatz, u.a. als Schlüsselanhänger und auf verzierten Aschenbechern. An Tankstellen sowie Autowerkstätten thronte „Bibendum“ auf Luftkompressoren und war dort zusätzlich noch auf Emailleschildern zu finden. Mit beleuchtbaren Figuren schmückten sich noch in den letzten Jahren viele LKW-Führerhäuser.

"Bibendum" mit Kneifer bei seiner "Public Relations". Im Hintergrund der Portalvorbau einer der alten Hopfenhallen am Kornmarkt. Der Kühlergriff am rechten Bildrand trägt das Emblem des Autoherstellers "Adler", um 1930 (StadtAN E10/151 Nr. 7-7-4).

Von einem dem Zeitgeist unterworfenen Wandel, der das Zielpublikum veränderte und Werbestrategien anpasste, blieb leider auch die Werbefigur „Bibendum“ nicht verschont. Verkörperte der ursprüngliche Reifenmann mit Zigarre, Kneifer, Manschettenknöpfen und einer ansehnlichen Körperfülle von vierzig Reifen noch den gutsituierten Wohlstandsbürger mit entsprechendem Wohlstandsbauch, der auf seinen Plakatszenen meist witzig und originell auftrumpfte, so speckte er später auf sechsundzwanzig Reifen ab, wurde gesundheitsbewusster Nichtraucher, bis schließlich zum heutigen, runderneuerten und verschlankten kindlichen Sympathieträger mit nettem und beliebigem Gesichtsausdruck, der aber keine Geschichten mehr zu erzählen hat. Wahrscheinlich kann allerdings ein Werbesymbol eine Zeitspanne von über einhundert Jahren auch nur durch stetige Anpassung und Ausgleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart überhaupt überleben.

Möchte man als Nostalgiker noch den ursprünglichen „Bib“ erleben, so sollte man sich nach London in die Fulham Road in Chelsea begeben. Dort befindet sich das Michelin-House, seit 1911 Hauptsitz der englischen Niederlassung mit angeschlossenem Kundenzentrum (neudeutsch Flagship-Store). Ein früher Eisenbetonbau mit Spätjugendstilfassade und beginnenden Art Déco Anklängen. Der Tempel des Reifenmannes ist verziert mit Buntglasfenstern, Keramikfliesen und Bodenmosaiken, die sein Konterfei tragen und auf Wandkacheln von Rennerfolgen früher Automobilisten zeugen. Heute findet man dort Büros, Designerläden und ein Restaurant.

Die beiden Vergrößerungen wurden von Leica-Kontaktabzügen aus dem Bestand StadtAN E 10/151 Nr. 7/7 angefertigt.

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