„Das doppelte Lottchen“ auf dem Reichsparteitagsgelände

Zu Ostern 1939 unternahmen die Geschwister Helga (geb. 1927) und Liselotte (geb. 1928) Schlitt zusammen mit ihrem Vater, dem Drogisten und Kolonialwarenhändler Josef Schlitt aus Frankfurt am Main einen mehrtägigen Ausflug nach Franken. Unterwegs mit ihrem Opel „Olympia“ besuchten die Drei u.a. Würzburg, Rothenburg o. d. Tauber, Bad Mergentheim und Tauberbischofsheim. In Nürnberg verbrachte die kleine Reisegruppe zwei Tage, übernachtet wurde im Hotel Kaiserhof in der Königstraße 39.

Wie aus einem von Helga Schlitt handschriftlich verfassten Reisebericht ersichtlich, steuerte die Gruppe nicht etwa zunächst die gängigen touristischen Sehenswürdigkeiten in der Altstadt an, sondern fuhr als Erstes zum Reichsparteitagsgelände, wobei der Vater die stets gleich gekleideten , stramm stehenden Töchter sowie das Kraftfahrzeug vor Zeppelintribüne und den Fahnentürmen in sich ähnelnder Anordnung fotografierte.

In "vorbildlicher Haltung" mit dem familieneigenen Opel "Olympia" vor der Zeppelintribüne.
(Stadtarchiv Nürnberg A35/118 Nr. 5)

Anschließend ging es weiter zum Luitpoldhain und – wohl angelehnt an die von Leni Riefenstahl in ihrem Film „Triumph des Willens“ überlieferte und im kollektiven Gedächtnis verankerte Choreographie der Nationalsozialisten – wurde der Weg zwischen der Tribünenanlage und der Ehrenhalle für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs zurückgelegt: „Wir gingen genau da, wo der Führer geht“ schrieb Helga in ihrem Bericht. Dort angelangt erinnerte sich der Vater an seine Einsatzorte im Krieg.

Die Geschwister im Luitpoldhain mit Blick von der Tribüne zur Ehrenhalle für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. (Stadtarchiv Nürnberg A35/118 Nr. 7)

Wieder in der Altstadt angelangt, schloss sich dann noch ein Besuch in der Lorenzkirche an, am nächsten Tag gefolgt von den vielen – bis auf die Folterkammer im Fünfeckturm – der auch heute von Besuchern der Stadt gern frequentierten Sehenswürdigkeiten wie Burganlage, Hans-Sachs-Denkmal, Frauenkirche mit Männleinlaufen, Schönem Brunnen, Sebalduskirche und Albrecht-Dürer-Haus. Der Vater fotografierte und Tochter Helga führte ihren Bericht mit eingestreuten Erläuterungen zu den gesehenen Kunstwerken, vermengt mit ehrfürchtigen, heute sehr befremdlich wirkenden, damals wohl zeittypischen, Bemerkungen zum Nationalsozialismus. Wenn etwa erwähnt wird, wo Hermann Göring immer seine Bratwürste aß und Horst Wessel übernachtete, oder in der Formulierung „Die Stelle auf dem Adolf Hitlerplatz, auf der am Reichsparteitag der Wagen des Führers steht wurde von uns besonders beachtet.“ Der Aufenthalt in Nürnberg wurde von einem Abstecher auf der Autobahn Berlin-München nach Lauf a. d. Pegnitz unterbrochen, wo der Vater seine Kindheit verbrachte. Während des Aufenthalts in Nürnberg wurde einmal im "Hotel Blaue Traube", in der Johannesgasse 22, zu Abend gegessen. Anerkennend wurde dabei extra erwähnt: „Der Inhaber ist ein alter Mitkämpfer des Führers“.

Die Kartonbox mit den 42 sw-Fotos und dem 14-seitigem Erlebnisbericht gelangte 2018 durch Schenkung ins Stadtarchiv.

Kommentieren