Die Göttinnen vom Sterntor

Hatte der Fotograf des Hochbauamts Otto Ernst Munkert in den Jahren 1963/64 vor allem die Absicht, die Fassade des neuerrichteten Parkhauses in der Unteren Grasersgasse 25/29 zu dokumentieren, oder war bei ihm auch ein Interesse an den eleganten Automobilen vorhanden? Dem heutigen Betrachter werden vermutlich zuerst die präsentierten Fahrzeuge im Erdgeschoss auffallen.
Wahrscheinlich nutzte die örtliche Citroën- und Panhard-Vertretung, die Konrad Fick KG in der Fahrradstraße 10, die Schaufensterfront als innerstädtischen Ausstellungsraum für die neuesten Citroën DS Limousinen- und Kombimodelle. Wobei die moderne funktionalistische Rasterfassade des Gebäudes mit Betonsichtwand gut mit dem Firmenschriftzug und den futuristischen Automobilkarosserien korrespondiert.

Durch ein Wortspiel mit den beiden französisch ausgesprochenen Buchstaben ds – déesse (Göttin) – bekam die DS schnell ihren standesgemäßen Spitznamen, als sie auf dem Pariser Autosalon im Oktober 1955 vom französischen Autohersteller Citroën dem staunenden Publikum präsentiert wurde und noch während der Laufzeit der Messe zum Verkaufsschlager avancierte. Ergänzend dazu wurde der Wagen zeitgleich landesweit bekannt, als er zusammen mit der italienischen Filmdiva Gina Lollobrigida am Steuer als Werbebotschafterin drei Tage nach Saloneröffnung auf dem Titelblatt der französischen Illustrierten Paris Match, mit im Heft befindlicher Story, geschickt vermarktet wurde. Nicht nur im Design und der fortschrittlichen Fahrzeugtechnik, auch im Marketing war Citroën führend.
Durch seinen äußerst strömungsgünstigen, vollkommen neuartigen, an einen Haifisch erinnernden Karosserieentwurf mit großen Fensterflächen und den charakteristischen Blinkertrompeten am Dachabschluss sowie zahlreichen technischen Innovationen wie etwa der Hydropneumatik – einem zentralgesteuerten Hydrauliksystem für Lenkung, Bremsen und Federung – ausgestattet, zusätzlich ab dem Modelljahr 1968 mit mitlenkendem Kurvenlicht versehen, ließ die DS ihre damaligen Konkurrenten ziemlich gestrig aussehen und wirkte für die damaligen potentiellen Käufer wie ein Auto von morgen.
Blickt man von heute aus zurück, verwies dieser Entwurf die damaligen (manchmal sogar ästhetisch ansprechenden) Visionen vor allem US-amerikanischer Autobauer vom Automobil der Zukunft, also von atomangetriebenen, mit Glaskuppeln bestückten Fahrzeugstudien im Jet-Design endgültig ins Reich kindlicher Phantasie: hinter futuristischem Design verbarg sich dort konventionelle Technik mit einem großvolumigen Motor, anstatt erhofftem Reaktor.

Moderne Formensprache in der Architektur und im Autodesign (StadtAN A39/III Nr. A39-III-Fi-S-3777 (16.10.1963))

Allerdings muss hier eingeräumt werden, dass der antiquierte, wenn auch immer wieder weiterentwickelte Vorkriegs-Vierzylinder-Motor der DS bis zum Produktionsende im Jahre 1975 sicher einer der Schwachpunkte war, der dem Einzug der Göttin in den automobilen Olymp der Oberklasse im Wege stand. Für diesen wäre ein leistungsstarker und laufruhiger Sechszylinder-Motor und – aus deutscher Perspektive – eine Verbesserung der nonchalanten französischen Verarbeitungsqualität unerlässlich gewesen.

Unbestritten bleibt aber die revolutionäre Formgebung der D-Modelle und der einfacher ausgestatteten ID-Baureihe (Achtung wieder Wortspiel: idée) des italienischstämmigen Designers Flaminio Bertoni, welcher zuvor schon am Entwurf des Citroën 2CV (der „Ente“) als auch des Citroën 7CV, 11CV, 15CV Traction Avant (auch bekannt als „Gangsterlimousine“) federführend beteiligt war und den Typ in den Rang einer Designikone erhob, vergleichbar mit einem Tatra 87 oder dem Jaguar E-Type Coupé. Mittlerweile hat dieses Auto auch seinen Weg in die Designabteilungen der Museen gefunden und eine weiße DS 21 wird z.B. in der Neuen Sammlung der Pinakothek der Moderne in München ausgestellt.
Dieser Status wurde durch geschickte und innovative Werbestrategien des Herstellers gefestigt. So wurde der Wagen von Citroën etwa 1957 bei der Design-Triennale in Mailand präsentiert und mit einem Preis bedacht. Die Verkaufsprospekte stachen gestalterisch immer heraus und oftmals wurden dafür Aufträge an Fotokünstler wie William Klein oder Helmut Newton vergeben. Das war ein Novum in den 1960/70er Jahren, fanden sich in solchen Publikationen doch bis dahin meist nur eintönige Fotos und ebensolche Zahlenkolonnen, während in den Ausgaben von Citroën Geschichten erzählt wurden. Dem Ganzen förderlich war sicher auch die Erwähnung des Citroën DS in dem ebenfalls im Jahre 1957 erschienenen Essayband Mythen des Alltags des französischen Philosophen Roland Barthes. Allerdings – auch der Autor dieser Zeilen folgt diesem dem Platz geschuldeten schlechten Beispiel – meist stark verkürzt und aus dem Zusammenhang gerissen: „Die ‹Déesse› hat alle Wesenszüge eines jener Objekte, die aus einer andern Welt herabgestiegen sind“.

Auch in der vermeintlichen Populärkultur war die DS in so manchem Spielfilm der damaligen Zeit prägend in Szene gesetzt und wirkt darüber hinaus bis heute fort. Es sei hier nur an die noch ein Stück weiter in die Zukunft weisende, fliegende Fahrzeugvariante in der für uns heute etwas zu spaßig geratenen Kriminalkomödie Fantomas gegen Interpol (Fantômas se déchaîne) von Regisseur André Hunebelle aus dem Jahr 1965 erinnert. Ein besonderer Meilenstein bleibt der kühl stilisierte Gangsterfilm Der eiskalte Engel (Le samouraï, 1967) des Meisterregisseurs Jean-Pierre Melville, mit dem Schauspieler Alain Delon in der Rolle des genreprägenden Auftragskillers und seinem angemessenen Fortbewegungsmittel.
Der bereits erwähnte Fotograf Helmut Newton nutzte die DS oftmals für seine heutzutage (leider) schwer vorstellbaren erotischen Fotostrecken. Weiterhin fand der Wagen vielfach in Modemagazinen wie etwa der Vogue als Requisite Verwendung.
Von anderen Stilikonen jener Zeit existieren ebenfalls zeittypische Aufnahmen, neben Cathérine Deneuve und Brigitte Bardot z.B. von der französischen Sängerin, Schauspielerin und Ideengeberin der „Birkin Bag“, Jane Birkin in einer Cabriolet-Version der Göttin.

„Showroom“ im Parkhaus beim Sterntor mit der Kombivariante Citroën DS19 Break (StadtAN A39/III Nr. A39-III-Fi-S-3951) (18.08.1964)

In der sogenannten Hochkultur wiederum inspirierte das windschnittige Fahrzeug oftmals Künstler zur formalen Auseinandersetzung und neuen überraschenden Skulpturen, wie z.B. eine Arbeit des Mexikaners Gabriel Orozco aus dem Jahre 1993, der aus einer DS ein Objekt mit extrem verschmälerter Karosserie schuf.

Auf den Verlauf der großen Politik nahm das große Citroën-Modell ebenfalls Einfluss. So rettete der Wagen seinen Insassen, dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle und seiner Gattin Yvonne vermutlich das Leben, als ein Attentat der rechtsgerichteten "Organisation de l’armée secrète" (OAS) wegen seiner Algerien-Politik am 23. August 1962 im Ort Petit-Clamart fehlschlug. Durch die Geistesgegenwart des Fahrers und Dank des Niveauausgleichs durch die Hydropneumatik, konnte der in einen Hinterhalt geratene Wagen trotz zahlreicher Einschusslöcher sowie eines zerschossenen Reifens seine Fahrt auf drei Rädern fortsetzen und entkommen.

In Deutschland vermeintlich das Fortbewegungsmittel der Freiberufler, Architekten und etwaiger Nonkonformisten, war die DS im Ursprungsland Frankreich bei einer Gesamtzahl von über 1,4 Millionen produzierter Einheiten während ihrer zwanzigjährigen Bauzeit wohl durchaus die Wahl des gutsituierten, stets vehement seine soziale Stellung verteidigenden Bourgeois, wie ihn der Schauspieler Louis de Funès in vielen zeitgenössischen Filmkomödien – Amok laufend und fahrend – grandios karikierend verkörperte. In Deutschland fiel der Wagen durch die geringe Exportrate und dementsprechende Verkaufszahlen weniger ins Gewicht. Diese waren sicher auch dem anfangs zutreffenden, später aber nicht mehr berechtigten, schlechten Ruf der komplexen Hydropneumatik geschuldet.

Im Falle des Entwerfers der Norishalle (funktionaler, detailverliebter béton brut), in der heute das Stadtarchiv Nürnberg beheimatet ist, ist das oben angesprochene Klischee tatsächlich zutreffend: Der Architekt Heinrich Graber besaß ein solches „Architektenauto“.

„Showroom“ im Parkhaus beim Sterntor mit Citroën DS19 Limousine (StadtAN A39/III Nr. A39-III-Fi-S-4062)

Wie weit das Design des Wagens aus den fünfziger Jahren immer noch für technischen Fortschritt steht, zeigt sich am amerikanischen Science-Fiction-Film Gattaca (Regie Andrew Niccol, 1997). Hier geht die DS in ihrer göttlichsten Erscheinung als Cabriolet, pilotiert von der Schauspielerin Uma Thurman, neben anderen mutigen Formexperimenten der 1960er Jahre wie etwa dem Studebaker Avanti des Industriedesigners Raymond Loewy immer noch problemlos als Auto der Zukunft durch.

Sollte dem Verfasser dieser Zeilen eine andere Göttin namens Fortuna in seinem Leben mit einem reichen Geldsegen doch noch unterstützend unter die Arme greifen, wäre eines dieser sündhaft schönen, aber leider ebenso teuren DS-Cabriolets (trotz schlechtem Klimagewissens) jedenfalls die erste Wahl.

In der bis Mitte September 2022 im Guggenheim Museum in Bilbao gezeigten Ausstellung Motion, die vom englischen Architekten Norman Foster kuratiert wurde, bestand für den interessierten und aufmerksamen Besucher die Möglichkeit, ein vom französischen Karosseriedesigner Henri Chapron entworfenes Citroën DS-Cabriolet in Augenschein zu nehmen. Desgleichen war bis Anfang des Jahres 2022 im New Yorker MoMA anlässlich der Ausstellung automania der Fall. Stilsicher hatte die Göttin als Limousine im marmorverkleideten Innenhof neben der Plastik La Rivière des französischen Bildhauers Aristide Maillol ihren Platz gefunden. Im Nürnberg der 1960er Jahre konnte man am Sterntor – mangels Skulptur – wenigstens das automobile Kunstwerk betrachten.

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