Die Ermordung Walther Rathenaus und die Anfänge einer demokratischen Erinnerungskultur in Nürnberg

Gastbeitrag von Matthias Klaus Braun

Friedrich Ebert, Gustav Stresemann, Rosa Luxemburg – Politikerinnen und Politiker der Weimarer Republik sind heutzutage in Straßen- und Platznamen in vielen deutschen Städten präsent und erinnern an die aus Kriegsniederlage und Revolution erwachsene Demokratie der Jahre 1918 bis 1933. In Nürnberg wird die Reihe ergänzt durch verdiente Lokalvertreter der jungen Demokratie wie Hermann Luppe, Martin Treu oder Anna Steuerwald-Landmann. Die meisten Benennungen erfolgten erst nach dem Untergang der Weimarer Republik und dem Neuaufleben demokratischen Lebens in der Bundesrepublik. Eine Ausnahme bildet jedoch der nach Reichsaußenminister Walther Rathenau benannte Platz. Die Ermordung des Nachkommens einer jüdischen Industriellenfamilie durch rechtsextreme Offiziere führte in Nürnberg zur erstmaligen öffentlichen Würdigung eines demokratischen Vertreters. Zwar folgte 1930 noch die Benennung des damaligen Wodanplatzes nach dem fünf Jahre zuvor verstorbenen Sozialdemokraten und ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert, doch war diese Würdigung nur von kurzer Dauer. Nachdem die Nationalsozialisten alle demokratischen Spuren auch im öffentlichen Raum beseitigt hatten und ihre Herrschaft letztlich 1945 ebenso unterging, firmierte der frühere Friedrich-Ebert-Platz ab 1946 als „Platz der Opfer des Faschismus“. Sein alter Namensgeber wurde stattdessen 1954 mit einer Freifläche im Nordwesten der Stadt bedacht. Der Name Rathenau kehrte dagegen 1946 auf dem ihm zugedachten Platz zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg unumstritten und Ausdruck des Anknüpfens an demokratische Traditionen war die ursprüngliche Benennung ein politischer Zankapfel – und zugleich der Beginn der heute selbstverständlich gewordenen demokratischen Erinnerungskultur in Nürnberg.

Der Rathenauplatz im vertrauten Bild der Nachkriegsjahre von 1971. Foto Hochbauamt: Otto Munker, 8.9.1971. (Stadtarchiv Nürnberg A 40 Nr. L-1205-17)

Ein Mord erschüttert Nürnberg

Der Name Rathenau ist in Nürnberg nicht unbekannt. Emil Rathenau gehört als Gründer der „Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft“ (AEG) zu den führenden deutschen Industriepionieren. In Zusammenarbeit mit der Nürnberger Unternehmerfamilie Bing betreibt die AEG im Stadtteil Muggenhof seit Jahresanfang 1922 die Produktion von elektrischen Haushaltsgeräten. Emils Sohn Walther betätigt sich gleichfalls im Familienkonzern, findet aber während des Ersten Weltkriegs als Wirtschaftsexperte in die Politik. 1920 übernimmt er das Amt des Wiederaufbauministers im Kabinett des Reichskanzlers Joseph Wirth und folgt damit dem früheren Nürnberger Oberbürgermeister Otto Geßler, der als Minister fortan die Zuständigkeit für die Reichswehr übernimmt. Parteipolitisch gehört Walther Rathenau wie Geßler und dessen Nachfolger als Stadtoberhaupt, Hermann Luppe, der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) an.

In den Anfangskrisen der 1918 entstandenen Weimarer Republik werden die politischen Vertreter des linken Parteienspektrums bevorzugt zu Zielen rechtsextremer Mordanschläge. Die Täter rekrutieren sich zumeist aus ehemaligen Front- und Freikorpssoldaten, die neben der Ablehnung der Republik extreme Gewalterfahrung als Mittel zur Erreichung politischer Ziele verbindet. Der in diesen Kreisen verbreitete Antisemitismus gefährdet Walther Rathenau auch wegen seiner jüdischen Religionszugehörigkeit. Dabei hat ausgerechnet der am 16. April 1922 von Rathenau trotz seiner Bedenken mit dem Außenminister der Sowjetunion unterzeichnete Vertrag von Rapallo in nationalistischen Kreisen Zustimmung gefunden. Erstmals tritt das Deutsche Reich aus der Rolle des Weltkriegsverlierers heraus und gewinnt wieder außenpolitische Gestaltungsmacht. Dennoch bleibt Rathenau als überzeugter Demokrat, weltgewandter Großbürger, erfolgreicher Industrieller und Jude besonders verhasst. Die prekären wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und die steigende Geldentwertung radikalisieren die innenpolitischen Verhältnisse zusätzlich. Hetzreden gegen die Republik mit expliziten Mordaufrufen gegen deren Verfechter sind aus dem politischen Umfeld der konservativen Deutschnationalen von den Stammtischen bis in den Reichstag auf der Tagesordnung. Am 4. Juni 1922 misslingt ein Attentat auf den früheren sozialdemokratischen Regierungschef Philipp Scheidemann. Kurz darauf, am Vormittag des 24. Juni, wird Walther Rathenau in Berlin auf dem Weg zu seinem Büro im Auswärtigen Amt auf offener Straße von zwei ehemaligen Marineoffizieren mit einer Handgranate und Pistolenschüssen umgebracht. Die Mörder können schnell ermittelt und im Juli gestellt werden. Beide gehören der rechtsextremen Terrorgruppe „Organisation Consul“ an.

Die Fahndung der Polizei dehnt sich nicht ohne Grund bis nach Nürnberg aus. Auch hier ist ein Ableger der „Organisation Consul“ aktiv und unterhält illegale Waffenlager aus Militärbeständen. Die bayerischen Behörden sehen jedoch in den Ermittlungen von außen eine größere Gefahr für die staatliche Eigenständigkeit, anstatt der Spur zur Aufdeckung terroristischer Verbindungen nachzugehen. Der Chronist der Nürnberger Sozialdemokratie Georg Gärtner bemerkt dazu: „Die Landeshauptstadt München war der Hauptsitz aller monarchistischen Umsturzverschwörungen geworden und in den traurigen Ruf einer politischen Mörderzentrale gelangt.“ Anders verhält es sich in der Nürnberger Öffentlichkeit. Gegen die Republik gerichtete Provokationen während einer Landwirtschaftsausstellung haben schon zuvor die Stimmung in der Stadt aufgeheizt. Drei Tage nach der Mordtat findet auf der Insel Schütt eine Trauerkundgebung für den Außenminister mit 40.000 Teilnehmern statt. Am 4. Juli lassen über 100.000 Menschen in einem Demonstrationszug von der Deutschherrnwiese zum Hauptbahnhof ein sichtbares Bekenntnis zur Republik folgen.

Von der Straße in den Stadtrat

Am 27. Juni 1922 verurteilt Oberbürgermeister Hermann Luppe im städtischen Verwaltungs- und Polizeisenat mit deutlichen Worten öffentlich den Mord, dem mit Rathenau „einer der besten Männer des deutschen Volkes zum Opfer gefallen“ ist. Die Hoffnung des Stadtoberhaupts, „Wir alle werden einig sein im Abscheu über diese fluchwürdige Tat“, erzeugt jedoch keine Einigkeit. Anlass der folgenden hitzigen Debatten ist der Antrag der Mehrheitssozialdemokraten (MSPD), unterstützt durch die Fraktion der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), die Benennung eines Platzes nach Walther Rathenau vorzunehmen. Mit ihrer Stimmenmehrheit im Stadtrat ist der erfolgreiche Beschluss am 28. Juni nur Formsache. Die Erregung bei den anderen Parteien wird nicht durch die Würdigung des Ermordeten an sich ausgelöst, sondern durch die bewusste Degradierung eines anderen.

Die beiden sozialdemokratischen Fraktionen haben sich nämlich nicht irgendeinen Platz zur Neubenennung ausgesucht, sondern den früheren Äußeren Laufer Torplatz, der seit 1917 nach dem ehemaligen Chef der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, aus Anlass von dessen 70. Geburtstag benannt war. Der pensionierte Militär steht mittlerweile für eine reaktionäre und nationalistische Politik und hat die republikfeindliche Legende befördert, Ursache der Kriegsniederlage seien nicht militärische und politische Fehlplanungen der kaiserlichen Führungselite sowie die feindliche Übermacht gewesen, sondern insbesondere von der SPD und ihren Unterstützern geschürte revolutionäre Unruhen. Für weite Teile des Bürgertums ist Hindenburg jedoch ein Kriegsheld, der durch seine Erscheinung und sein Auftreten nach der Abdankung des Deutschen Kaisers Wilhelm II. die Sehnsucht nach einer repräsentativen Führungsperson an der Staatsspitze widerspiegelt. Deren politische Vertreter im Nürnberger Stadtrat nehmen die Umbenennung ausgerechnet des Hindenburgplatzes als Affront wahr und stimmen geschlossen dagegen. Einer anderen Platz- oder Straßenbenennung nach dem ermordeten Außenminister hätten die meisten angesichts der allgemeinen Empörung über das Attentat vermutlich zugestimmt. Auch Rathenaus Mutter bittet in einem Schreiben an die Stadt, trotz der Freude über das Benennungsvorhaben den von ihrem Sohn verehrten Hindenburg nicht zu brüskieren und einen anderen Platz auszusuchen. Selbst Rathenaus Parteifreund Oberbürgermeister Hermann Luppe, einer Nähe zu republikfeindlichen und antisemitischen Kreisen vollkommen unverdächtig, stimmt gegen den neuen Namensgeber. Die Nachteile einer weiteren Radikalisierung zuungunsten der jungen Demokratie wiegen für ihn schwerer als die Würdigung und das republikanische Zeichen. Die Neubenennung des Platzes in Rathenauplatz verhindert das alles nicht mehr.

Die Auseinandersetzung ist damit aber nicht beendet: weder in der Öffentlichkeit, wo die Straßenschilder des Rathenauplatzes häufig Beschädigungen erfahren, noch im Stadtrat, mithilfe von dessen Protokollen (Stadtarchiv Nürnberg C 7/IX) sich das kontroverse Ringen um eine öffentliche Würdigung der Weimarer Republik und ihrer Vertreter nachzeichnen lässt.

Ein Resultat der politisch aufgeladenen Stimmung des Jahres 1922 ist das Ausgreifen der NSDAP von München nach Norden. Am 20. Oktober 1922 wird unter der Führung des Volksschullehrers Julius Streicher deren Nürnberger Ortsgruppe gegründet. Seit Dezember 1924 sind die Nationalsozialisten auch im Stadtrat vertreten. Im April 1925 bringen sie einen Antrag ein, wonach der Rathenauplatz wieder nach Hindenburg benannt werden soll. Der Zeitpunkt ist kein Zufall. Nachdem der bisher amtierende Reichspräsident, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, im Februar 1925 verstorben ist, geht Hindenburg als Kandidat für das bürgerlich-konservative Lager in den zweiten Wahlgang und gewinnt diesen am 26. April 1925. Die Nationalsozialisten im Nürnberger Stadtrat finden aber für ihren Antrag ebenso wenig eine Mehrheit gegen die nun wiedervereinigte SPD wie die Kommunisten mit ihren Vorschlägen, den Platz anstatt nach dem Industriellen Rathenau besser in „Roter Platz“ umzubenennen und außerdem die 1919 ermordeten Revolutionäre Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gleichermaßen zu würdigen. Auch ein Kompromissvorschlag, dem Rathenauplatz wieder einen neutralen Namen mit Bezug zum Laufer oder Maxtor zu geben, stattdessen einerseits den Maffeiplatz nach ihm zu benennen und andererseits den Wodanplatz nach Hindenburg, findet keine Mehrheit.

Dass der Rathenauplatz seit jeher zu den Verkehrsknotenpunkten Nürnbergs zählt, zeigt nicht nur das Gewirr der Straßenbahnoberleitungen im Jahr 1927, sondern auch die Etablierung eines Zeitungskiosks in Richtung Laufer Torturm. Foto Hochbauamt, 27.4.1027. (Stadtarchiv Nürnberg A 38 Nr. A-35-16)

Weitere Namen im Gespräch

Zeitgleich mit der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung der Weimarer Republik beruhigt sich in Nürnberg vorerst auch die Diskussion um den Rathenauplatz. Am 21. Mai 1930 schlägt Oberbürgermeister Luppe vor, demnächst eine noch zu findende Straße nach dem mittlerweile verstorbenen nationalliberalen Außenminister Gustav Stresemann zu benennen, zugleich den bisherigen Wodanplatz dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert zu widmen und den amtierenden Reichspräsidenten Hindenburg mit der Umbenennung des Maxplatzes zu würdigen. Damit wäre allen, die Republik mittlerweile tragenden politischen Strömungen Genüge getan. Die Bayerische Volkspartei ergänzt die Liste noch um den 1921 einem rechtsradikalen Attentat zum Opfer gefallenen Reichsfinanzminister Matthias Erzberger. Als daraufhin die SPD im Juni die Umbenennung des Wodanplatzes nach Friedrich Ebert beantragt, sieht der nationalsozialistische Stadtrat Karl Holz hierin eine Provokation aller „Nationaldenkenden“, was Unruhe in der Bevölkerung auslösen würde. Mit ausdrücklichem Verweis auf die Diskussionen beim Rathenauplatz vertagt man die Entscheidung lieber. Schließlich dauert es fast zwei Jahre, bis man sich erneut im Stadtrat damit befasst hat.

Wie schon 1925 nutzt die NSDAP die 1932 anstehende Wiederwahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten, um mit einer Rückbenennung des Rathenauplatzes Stimmung zu machen. Mittlerweile unterstützt selbst die SPD den früheren Militär, nicht zuletzt weil sein Gegenkandidat Adolf Hitler mit seiner NSDAP im Aufwind ist. Die sich seit Oktober 1929 verschärfende Weltwirtschaftskrise hat den Nationalsozialisten zunehmend Wahlerfolge beschert. Zynisch wird im Februar 1932 die Rückbenennung nun mit der „Änderung der Einstellung […] zu der Person des Generalfeldmarschalls von Hindenburg“ begründet. Die propagandistische Taktik, die SPD mit dem Antrag vorführen und durch die zu erwartende erneute Ablehnung Hindenburg öffentlich durch seine jetzigen sozialdemokratischen Unterstützer brüskieren lassen zu wollen, ist klar erkennbar. Der Antrag wird daher anders als 1925 nicht sofort abgelehnt, sondern in den Ältestenausschuss verwiesen und dort am 16. März 1932 weiterdiskutiert.

Den Nationalsozialisten war bei ihrem Antrag außerdem ein Detail wichtig: 1917 sei Hindenburg nicht als Politiker, sondern als Militär geehrt worden. Daran wollen sie unbedingt festhalten und auch bei jeder künftigen Würdigung ausdrücklich nicht das aktuelle Staatsoberhaupt der Weimarer Republik herausstellen, die sie entschieden bekämpfen. Wenig überraschend haben die nationalsozialistischen Stadträte bei der fortgesetzten Debatte im Ältestenausschuss keine Antwort parat, als die Frage aufkommt, ob sie dann auch mit der Ehrung anderer verdienter Politiker der Republik wie Hindenburgs Vorgänger Friedrich Ebert einverstanden seien. Die Umbenennung des Rathenauplatzes nach Hindenburg wird einhellig abgelehnt. Stattdessen schlägt der Stadtrat des Christlichen Volksdienstes vor, eine Platzbenennung als unzureichend aufzugeben und Paul von Hindenburg besser mit der Ehrenbürgerwürde Nürnbergs zu bedenken.

Öffentlich hält die NSDAP an ihrer Forderung nach Umbenennung des Rathenauplatzes fest. Sie spricht sich daher im April 1932 auch gegen die Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Nürnberg an Hindenburg aus. Ebenso lehnt sie Luppes Vorschlag ab, die Schultheißallee, die im Luitpoldhain am städtischen Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs vorbeiführt, nach Hindenburg zu benennen. Die SPD stimmt den beiden Ehrungen für Hindenburg dagegen zu, zumal der Wodanplatz künftig nach Friedrich Ebert benannt wird. Luppe hatte die Stimmung in der Präsidialkanzlei derweil schon sondiert und positive Signale empfangen. Das war nicht selbstverständlich, hatte Hindenburg die Aberkennung „seines“ Platzes durchaus gekränkt und die öffentlichen Streitereien darüber in den folgenden Jahren berechtigte Zweifel am ernsten Willen, ihn in Nürnberg zu ehren, aufkommen lassen. Der Fraktionsvorsitzende der NSDAP im Nürnberger Stadtrat Willy Liebel, selbst Soldat im Ersten Weltkrieg, veröffentlicht dazu einen an Hindenburg gerichteten offenen Brief. Darin fordert er den Reichspräsidenten zur Ablehnung der Ehrenbürgerwürde auf, da man ihn nicht als ehemaligen Militär, den seine jetzigen demokratischen Unterstützer bei der Reichspräsidentenwahl früher abgelehnt hätten, sondern als Vertreter der Republik sehen würde: „Man ehrt in Ihnen nicht den Mann, der Führer der Soldaten, den deutschen General – man ehrt und preist in Ihnen nur den Schutzschild des Systems!“ Mehr als eine knappe Reaktion der Kenntnisnahme erhält Liebel aus der Präsidialkanzlei jedoch nicht. Die Sache ist entschieden. Am 27. April beschließt der Stadtrat mit großer Mehrheit, die Umbenennung von Schultheißallee und Wodanplatz nach den bisherigen beiden Reichspräsidenten der Weimarer Republik sowie die Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt an den Amtsinhaber Hindenburg. Am 13. September 1932 kann Oberbürgermeister Luppe in Berlin dem Staatsoberhaupt die dazugehörige Urkunde persönlich übergeben. Die Schultheißallee behält jedoch nach Protesten der Nachfahren des Namensgebers ihren Namen. Stattdessen erhält ein Weg hinter dem Ehrenmal Hindenburgs Namen.

Die Straßenbahnen scheren sich nicht um den erzwungenen Namenswechsel und queren im August 1939 ungerührt den damaligen „Feldmarschall-Hindenburg-Platz“. Foto Stadtarchiv Nürnberg: Binder VAG, 29.8.1939. (Stadtarchiv Nürnberg A 43 Nr. P-51-16)

Erzwungene Umbenennung

Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler Ende Januar 1933 dauert es nur sechs Wochen, bis auch im Nürnberger Rathaus die Nationalsozialisten die Macht übernehmen. Mitte März löst deren bisheriger Fraktionsvorsitzende Willy Liebel den Demokraten Hermann Luppe an der Stadtspitze ab. Dabei war es der NS-Propaganda nach außen hin wichtig, Ruhe zu zeigen und keinen revolutionären Bruch, sondern eine Wiederherstellung vordemokratischer Verhältnisse zu suggerieren. In Anlehnung an die entsprechende Inszenierung in der Potsdamer Garnisonkirche als Versöhnung zwischen Kaiserreich und bürgerlicher Welt mit den neuen Machthabern finden am 21. März auch in Nürnberg den ganzen Tag über Paraden und Aufmärsche von Polizei, Militär, Studentenverbindungen und nationalsozialistischer Verbände statt. Auf einer öffentlichen Kundgebung am Abend kommt der neue Oberbürgermeister Liebel auch auf die Platzbenennungen des Vorjahres zu sprechen. Er kündigt an, per Verfügung den Rathenauplatz in „Feldmarschall-Hindenburg-Platz“ zu benennen, desgleichen den Friedrich-Ebert-Platz wieder in Wodanplatz und bei dieser Gelegenheit den Hauptmarkt in „Adolf-Hitler-Platz“. Die Nationalsozialisten haben sich zwangsweise durchgesetzt und den amtierenden Reichspräsidenten faktisch brüskiert. Nicht das aktuelle Staatsoberhaupt wird geehrt, sondern der pensionierte Militär. Hindenburg dankt dennoch per Telegramm für die erneute Platzbenennung. So entsteht die Kuriosität, dass in den folgenden 13 Jahren nach Hindenburg gleich zwei Adressen benannt sind, neben dem Platz die fortbestehende Hindenburgallee im Luitpoldhain. Mit der Neubenennung der städtischen Handelshochschule in Hindenburg-Hochschule wird ab Mai 1933 sogar noch eine dritte Örtlichkeit dem Reichspräsidenten gewidmet.

Einher geht die Beseitigung der Würdigung des demokratischen Außenministers Rathenau mit einer Platzumgestaltung. Das dort 1927 eröffnete Planetarium der Stadt Nürnberg wird im Frühjahr 1934 abgerissen. Die Nationalsozialisten hatten jahrelang gegen das Gebäude als „das Symbol einer zusätzlichen Schuldenwirtschaft des alten Regiments“ gewettert und auch dessen Architektur mit Kuppeldach als angeblich „undeutsch“ abgelehnt. Einen städtebaulichen Nutzen erfährt der Platz in den Folgejahren lediglich als Verkehrsknotenpunkt.

Das städtische Planetarium am Rathenauplatz war schon im Jahr der Eröffnung 1927 ein Symbol der Moderne und der positiven Stadtentwicklung unter dem demokratischen Oberbürgermeister Hermann Luppe – und gerade deswegen bei den Nationalsozialisten besonders verhasst. Foto Hochbauamt: Kurt Grimm, 1927. (Stadtarchiv Nürnberg A 38 Nr. B-22-1)

Demokratische Wurzeln

Am 20. April 1945 endet die NS-Herrschaft in Nürnberg mit der Einnahme der Stadt durch die US-Armee. Am 19. Mai ergeht als Verfügung der kommissarischen Stadtspitze die Weisung, alle in der NS-Zeit vorgenommenen Straßen- und Platzbenennungen wieder rückgängig zu machen. Das betrifft nicht nur die Rückkehr zum Hauptmarkt anstatt des „Adolf-Hitler-Platzes“, sondern auch die Mehrfachbenennungen nach Hindenburg. Seit 1946 hat der Rathenauplatz wieder seinen Namen zurück. Seit dem Ausbau der U-Bahn in den Nürnberger Nordosten ist der Namensgeber sogar präsenter denn je. Im unterirdischen U-Bahnhof erinnert seit 1990 ein Wandmosaik des Nürnberger Künstlers Gregor Hiltner aus bedruckten Keramikfliesen unter anderem an Walther Rathenau.

Nach Kriegsende kamen im nun wieder demokratischen Nürnberg keine Diskussionen mehr auf wegen der öffentlichen Würdigung Walther Rathenaus. Stattdessen wird mittlerweile auch weiteren Opfern rechtsradikaler Attentate gedacht, seit 2012 dem 1921 gleichfalls der „Organisation Consul“ zum Opfer gefallenen Finanzpolitiker Matthias Erzberger oder auch aus jüngster Vergangenheit zweien von drei Nürnberger Opfern des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), Ismail Yasar und Enver Simsek.

Die sozialdemokratische Mehrheit im Stadtrat hatte 1922 bereits vier Tage nach der Mordtat ein deutliches Zeichen gesetzt, was wohl eine der frühesten Ehrungen Rathenaus im damaligen Deutschen Reich war. Unmittelbar nach 1945 verging in Nürnberg dann nahezu kein Jahrzehnt, in dem nicht eines Weimarer Politikers, viel später erst der Politikerinnen, mit einer Straßen- oder Platzbenennung öffentlich gedacht wurde. Die Erinnerung an demokratische Traditionen und ihre Vertreter in Stadt und Land vor 1933 verstetigte sich damit schrittweise und allseits sichtbar im öffentlichen Raum – vom Straßenschild über den papiernen Stadtplan bis zur digitalen Haltestellenanzeige.

Mittlerweile erscheint die Weimarer Republik im Allgemeinen in einem positiveren Licht und nicht mehr als zwangsläufige Vorgeschichte der NS-Diktatur oder als negative Folie zur „geglückten Demokratie“ der westdeutschen Bundesrepublik. Das rasche öffentliche Erinnern an Walther Rathenau und das Nürnberger Ringen darum zeigt im Besonderen, wie wehrhaft und selbstbewusst diese Republik im lokalen Rahmen gegen extremistische Anfeindungen durchaus sein konnte. Diesem Erbe gilt es, gerade in politisch vermeintlich unsicheren und aufgewühlten Zeiten, sich würdig zu erweisen.

Der Namensgeber des Rathenauplatzes ist heute präsenter denn je – wenn auch vor allem im Untergrund. Der U-Bahnhof mit Zitat und Profil von Walther Rathenau im Jahr 2015. Foto Stadtarchiv Nürnberg: Julia Kraus, 21.1.2015. (Stadtarchiv Nürnberg A 96 Nr. 2945)

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