In den letzten Monaten des Jahres 1918 sahen sich der Magistrat und die kommunalen Behörden Nürnbergs unter der Leitung von Oberbürgermeister Dr. Otto Geßler (1875 - 1955) einer dreifachen existenziellen Krise gegenüber: Als Folge des verlorenen Krieges stand der Zusammenbruch der Monarchien bevor, der sich in der Ausrufung der Republik in Bayern und auf Reichsebene am 8. bzw. 9. November manifestierte. Über vier Jahre kriegsbedingte Mangelwirtschaft gefährdeten die Versorgung der Bevölkerung mit den elementarsten Gütern, was ebenso wie die allgemeine Friedenssehnsucht zur explosiven Stimmung im Lande beitrug. Seit Anfang Oktober trat zu den weltpolitischen Umwälzungen die zweite Welle der bereits im Juli beobachteten Influenza, landläufig als Spanische Grippe bezeichnet, allerdings mit noch nie zuvor dagewesener Wucht.
Alleingelassen in der Krise
Auf die Ereignisse an der Front hatte die Stadt keinen Einfluss, um die Bedürfnisse der Einwohnerschaft zu befriedigen, war sie auf die Zuteilungen aus der planwirtschaftlichen Bürokratie angewiesen. Mit den massiven Problemen, die die grassierende Epidemie schuf, stand sie allein da, weil Kaiser- und Königreich keine Veranlassung sahen, nachhaltig in ihren Verlauf einzugreifen. Nur zögernd wurde medizinisches Personal aus den Militärlazaretten für die Behandlung von Zivilisten freigegeben und die mit bis zu achtzig Krankentransporten am Tag überlastete Sanitätskolonne erhielt keine zusätzlichen Fahrzeuge. Dem Rettungsdienst wurde lediglich ein heereseigenes Personenauto für die nächtliche Beförderung von Ärzten zur Verfügung gestellt, dessen Fahrer und Benzin allerdings der Bedarfsträger bezahlen musste.
Selbst wenn die Verwaltung zu umfassenden Maßnahmen bereit gewesen wäre, um die Massenerkrankung zu bekämpfen, fehlten ihr hierzu Wissen und Mittel: Die damalige Medizin hielt eine Infektion durch einen Bazillus für die Ursache und war wegen dieser Fehleinschätzung sowohl präventiv als auch therapeutisch machtlos. Im Gegensatz zu anderen ansteckenden Krankheiten unterlag die Influenza keiner Meldepflicht, sodass man auf die Angaben der Ortskrankenkasse angewiesen war, aus denen sich aber kein zuverlässiges Bild gewinnen ließ, da dort nicht alle Erkrankten aktenkundig wurden und ihr Leiden häufig falsch als Lungenentzündung diagnostiziert wurde, die tatsächlich meist als Sekundärinfektion auftrat.
Handlungsspielräume
Dementsprechend waren die Handlungsspielräume der Kommune eng begrenzt: Im überbelegten städtischen Krankenhaus bemühten sich Ärzte und Pflegepersonal ohne wirkliche Heilungsmöglichkeiten um ihre Patienten und setzten sich dabei in Unkenntnis des viralen Ursprungs selbst einer tödlichen Gefahr aus. Lockdown- oder Quarantäneverordnungen waren unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft undenkbar und hätten zu einer weiteren Verschärfung der angespannten innenpolitischen Lage geführt. Deshalb blieb es bei allgemeinen Empfehlungen zum Hygieneverhalten und dem Rat, Menschenansammlungen, etwa in Straßenbahnen, zu meiden, was freilich mangels individueller Transportmittel unrealistisch war. Ende des Monats sprach sich der Amtsarzt sogar explizit gegen eine Schließung der Nürnberger Kinos aus. Am 9. November fand im Luitpoldhain eine von den linken Parteien einberufene Massendemonstration statt - nach heutiger Diktion eigentlich ein Super Spreader Event, der jedoch folgenlos blieb.
Lediglich in den Volksschulen sah sich die Kommune nach langem Zögern zum Eingreifen genötigt, da die Zahl der erkrankten Lehrer und Schüler einen regulären Betrieb unmöglich machte. Erst ab dem 21. Oktober wurden sie bis zur Wiederöffnung am 4. November geschlossen.
Fazit
Obwohl die Zeitumstände eine effektive Bekämpfung der Seuche verhinderten - eine Impfung gab es nicht -, wuchs sich die nahezu ungebremste Pandemie nicht zum apokalyptischen Massensterben aus: Berechnungen, die versuchen, auch Dunkelziffern und aus heutiger Sicht Fehldiagnosen zu berücksichtigen, gehen in beiden Wellen für Nürnberg bei jeweils gerundet 330.000 Einwohnerinnen und Einwohnern von 20.000 aus, die sich in ärztliche Behandlung begeben mussten, 1360 Erkrankte oder 4 Promille der Gesamtbevölkerung starben (Corona-Vergleichszahlen vom 9.3.2021: 518.365, 24.252 positiv Getestete, 801 Verstorbene, 1,5 Promille), darunter überproportional viele junge Menschen (s. Abb.).