Zum 80. Jahrestag der Deportation von Nürnberg nach Riga-Jungfernhof am 29. November 1941: Das Beispiel der Familie Stern

Vorgeschichte

Im Herbst 1941 lebten der Elektrotechniker und Kfz-Mechaniker Artur Stern (34) und seine Frau Lina (35) mit ihren beiden Söhnen Peter (5) und Samuel (2) im Judenhaus Marienstraße 1.

Die Sterns, um 1940 (StadtAN F 14 Nr. 37)

Bis 1938 hatte er eine eigene Autoreparatur-Werkstätte betrieben. Als ihm der NS-Staat die selbständige Existenz versagte, wurde er Ausbilder in der Umschulungswerkstatt der israelitischen Kultusgemeinde, wo Emigranten Berufe erlernen sollten, die in den Aufnahmeländern gefragt waren. Bei seinen Lehrlingen war der gebürtige Pfälzer beliebt und als Fachmann anerkannt. Ihm selbst gelang die Flucht nicht.

Seit dem Auswanderungsverbot vom 23.10.1941 planten die Nazis die Verschleppung der verbliebenen jüdischen Bevölkerung aus ihrem Machtbereich in den Osten als Vorstufe zur systematischen Vernichtung. So erhielt auch die Staatspolizeistelle Nürnberg-Fürth am 31. Oktober von Himmler den Befehl, aus Franken 1000 Juden zwecks Aussiedlung zu erfassen und mittels Transportzuges auf Marsch zu setzen, darunter 500 aus Nürnberg.

Die Verschleppung

Nach der Organisationsanweisung zur Durchführung der Juden-Evakuierung am 29.11.1941 wurde den für die Aktion vorgesehenen Sterns am 23. November eröffnet, dass sie sich bis zum 27. reisefertig zu machen hatten. Über das Ziel wurden die Menschen im Unklaren gelassen, offiziell sprach man von einem nicht näher bezeichneten Ghetto. Ihre ganze Habe wurde vom Deutschen Reich beschlagnahmt, nur das exakt aufgelistete Marschgepäck blieb in ihrem Besitz.

In einer eilig verfassten Mitteilung der Kultusgemeinde vom selben Tag wurden die von der Evakuierung betroffenen Mitglieder dazu aufgefordert, sich mit den gegebenen Tatsachen abzufinden und soweit möglich mit ruhigem Kopf sofort an die Erledigung der Reisevorbereitungen zu gehen. Jeder Versuch, sich der Umsiedlung zu widersetzen oder zu entziehen, ist zwecklos und kann für die Betreffenden zu schweren Folgen führen.

Am 27. November holten Beamte der Gestapo und Kripo ab 8 Uhr früh 517 Nürnbergerinnen und Nürnberger - die Überschreitung des Kontingents ergab sich daraus, dass Familien grundsätzlich gemeinsam verschleppt und Kinder unter sechs Jahren nicht mitgezählt wurden - vor den Augen der Bevölkerung mit Lastwagen aus ihren Wohnungen ab und führten sie im Sammellager Langwasser mit Jüdinnen und Juden aus Fürth, Würzburg, Bamberg und anderen fränkischen Orten zusammen. Nach Bezahlung ihrer Transportkosten, demütigenden Leibesvisitationen und Schikanen verließ der Zug aus Personenwagons am 29. November um 15 Uhr den Bahnhof Märzfeld auf dem Reichsparteitagsgelände.

Tod und Überleben

Nach einer Fahrt von etwa 1500 Kilometern nahm die Deportierten am 2. Dezember ein Trupp des SD (Sicherheitsdienst des Reichsführers SS) und lettischer Freiwilliger in Empfang und trieb sie vom Verschiebebahnhof Riga-Šķirotava in das verfallene Gut Jungfernhof (lettisch Jumpravmuiža). Dort litten sie unter Hunger, Kälte und der Überfüllung der Unterkünfte, in denen sich nach Transporten aus anderen Städten bis Ende Dezember 1941 etwa 4000 Menschen zusammendrängten. Am 26. März 1942 lösten die Deutschen das Problem auf ihre Weise: Unter einem Vorwand wurden etwa 1840 Kinder, Alte und nicht mehr Einsatzfähige in den Wald bei Biķernieki gebracht und erschossen. Seit 2001 erinnert am Schauplatz ein Gedenkhain an das Verbrechen, in dem auf Granittafeln die Herkunftsorte der Ermordeten genannt werden.

Die Übrigen mussten für die Mörder arbeiten, so auch Artur Stern, der mit Frau und Söhnen im Gefolge der deutschen Truppen bis in den besetzten Teil Russlands kam. Durch seine handwerklichen Fähigkeiten gelang es ihm, seine Familie zu retten: Er reparierte ihre militärische Ausrüstung, dafür wurden seine Angehörigen verschont. Als man wegen der heranrückenden Roten Armee die Sklaven nach Westen verlegte, wurden die Sterns jedoch getrennt. Der Vater kam am 30. Mai 1944 im KZ Buchenwald bei Weimar um. Seiner Frau und seinen Kindern hatte er aber genug Zeit verschafft, um am 15. April 1945 in Bergen-Belsen ihre Befreiung zu erleben.

Samuel und Peter Stern in Nürnberg, Dezember 1945 (StadtAN F 14 Nr. 17)

Nur 18 Nürnbergerinnen und Nürnberger überlebten die Verschleppung ins Baltikum. Das jüngste Opfer war die bei der Deportation einjährige Hilde Schulz, das älteste Lissa Madiewski mit 83 Jahren. In der Chronologie des Massenmords folgten die Deportationen nach Izbica (24.3.1942) und Theresienstadt (10.9.1942).

In den USA

Nach einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in Nürnberg emigrierte Lina Stern mit ihren Söhnen in die USA, wo sie den Nürnberger David Schneebalg (1914 - 2003) heiratete, der im Zweiten Weltkrieg Soldat der Roten Armee war. Seine Eltern und seinen Bruder hatten die Nazis umgebracht. Peter wurde dort Ingenieur und arbeitete später als Mittelschullehrer, Samuel studierte Biologie und war zuletzt Vizedekan des College of General Studies der Boston University. Lina starb 1976.

Peter (links) und Samuel Stern am 29.11.2011 bei der Gedenkveranstaltung im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände (Foto: Susanne Rieger)

Am 29.11.2011 besuchten die Stern-Brüder Nürnberg, um im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, unweit des Ortes, an dem 1941 ihre Fahrt in die Hölle der Schoa begonnen hatte, an einer Zeitzeugenveranstaltung zur Erinnerung an die Riga-Deportation teilzunehmen.

Hinweise

Auf dem YouTube-Kanal der Stadt Nürnberg zeigt das Stadtarchiv eine Slideshow mit 315 Fotos der Todesopfer der Riga-Deportation.

Auch das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände gedenkt der Ereignisse vor 80 Jahren auf seiner Website mit einem Text. Ein ausführlicher Beitrag auf dem Internetportal haGalil fokussiert sich auf die Rolle des Fiskus und der Reichsbahn bei Verfolgung und Verschleppung.

4 Kommentare

  1. Alfred Eckert 23 November, 2021 at 19:33 Antworten

    Sehr geehrter Herr Jochem,

    vielen herzlichen Dank für diesen Beitrag zur Erinnerung der Deportation von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern aus ihrer Heimat Franken: Bamberg, Bayreuth, Coburg, Erlangen, Forchheim, Fürth, Nürnberg und Würzburg nach Riga.
    Besonders eindrucksvoll ist Ihr Beitrag, weil die Brüder Peter und Samuel Stern die einzigen Kinder waren, die den Nürnberger Transport vom 29.11.1941 sowie auch das Lager Riga-Jungfernhof (mit knapp 4.000 Menschen) überlebt haben.
    Vielen herzlichen Dank.
    Mit freundlichen Grüßen
    Alfred Eckert

  2. Silvie Strauß 31 Januar, 2022 at 02:55 Antworten

    Werter Herr Jochem,
    ich danke Ihnen von Herzen für diesen Beitrag und – vor allem auch – das verlinkte Youtube Video. Die dort zu findenden Fotos der am 29.11.1941 deportierten Menschen sind auch im Gedenkbuch enthalten, auf YouTube aber in deutlich besserer Qualität. So konnte ich also Porträts von Mitgliedern der großen Familie Strauß finden, die mit dem in Kitzingen und Nürnberg gebürtigen Großvater meiner Brüder (Julius Strauß 13.1.1896, Deportation 19.8.1942 von Drancy nach Auschwitz) und meinem Namen verbunden ist. Julius Strauß hatte 2 Söhne, beide überlebten, einer wurde 1951 der Mann meiner Mutter.
    Der Urgroßvater meiner Brüder hieß Josef Strauß, war als Sohn von Joel Strauß und Nanny Rosenzweig in Rödelsee geboren und hatte (neben einigen Schwestern) einen Bruder: Nathan Strauß, 1849 in Rödelsee geboren.
    Von den 6 Kindern aus dessen Ehe mit Karolina Ermreuther sind alle ermordet worden, 4 waren am 29.11.1941 bei der Deportation dabei:

    Nanette Isner geb Strauß (= Cousine des Julius Strauß)
    Josef Isner…ihr Sohn (=Großcousin)
    Selma Strauß, (=Cousine)
    Justin Strauß (=Cousin) und Ehefrau Paula Goldmann
    Emmy Strauß (=Cousine)

    Sohn Alfred Strauß wurde von Stuttgart aus deportiert, kam über Kauen und Dachau nach Auschwitz und starb dort 1944 (Quelle: Aufzeichnungen Dachau), Tochter Clotilde Strauß (unverheiratet) wurde 1941 von Köln aus nach Litzmannstadt deportiert und starb dort im Februar 1942 (Quelle: NSDOK).

    Von Nanette Isner, ihrem Sohn und Selma Strauß gibt es Fotos, von den anderen leider nicht. Mit der Enkelin von Nanette Isner bin ich seit kurzem in Kontakt, sie lebt ebenfalls in Berlin.

    Also, noch einmal vielen Dank für Ihre unglaublich aufwendige und wichtige Recherche und Aufklärung.
    Viele Grüße, Silvia Strauß

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