Gastbeitrag von Dr. Anna Estermann, zuletzt Wiss. Mitarbeiterin im Projekt „Peter Handke Notizbücher. Digitale Edition“ (Österreichisches Literaturarchiv Wien und DLA Marbach)
Das 125-jährige Jubiläum des 1. FC Nürnberg bietet Anlass, nicht nur sportliche Erfolge und die Vereinsgeschichte zu würdigen, sondern auch kulturelle Zeugnisse in den Blick zu nehmen, die mit dem Club verbunden sind. Ein besonderes Beispiel dafür ist Peter Handkes „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968“. Dieses Werk, das 1969 im Gedichtband Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt erschien, stellt auf den ersten Blick eine einfache Spielerliste dar, gilt in der Literaturwissenschaft jedoch als Paradebeispiel für den Typus des Ready-made-Gedichts.

Ein literarisches Ready-made
Handkes Werk fordert den Leser auf, seine Definition von Literatur zu hinterfragen. Die „Aufstellung“ unterscheidet sich formal deutlich von dem, was man klassischerweise unter einem Gedicht versteht. Es handelt sich um eine Übernahme der Spieleraufstellung des 1. FC Nürnberg aus einer Tageszeitung, wobei das Spiel, anders als bei Handke angegeben, tatsächlich nicht um 15 Uhr, sondern bereits um 14 Uhr angepfiffen wurde, und als Rechtsverteidiger nicht Horst Leupold, sondern Helmut Hilpert aufgestellt war. Abgesehen von diesen inhaltlichen Abweichungen hat Handke den Text ohne weitere ästhetische Bearbeitung – keine Reime, keine Metaphern, keine sprachlichen Verzierungen – in einen Gedichtband aufgenommen und allein durch diese Kontextverschiebung aus einem Gebrauchstext ein Gedicht gemacht. Diese Technik, in der ein Alltagsgegenstand durch neue Zusammenhänge in Kunst transformiert wird, bezeichnet man als Ready-made.
Das Konzept stammt ursprünglich aus der bildenden Kunst und wurde von Marcel Duchamp in den 1910er-Jahren populär gemacht, als er etwa ein signiertes Urinal in einer Kunstausstellung präsentierte. Handke überträgt diese Idee auf die Literatur und zeigt, dass es der Kontext ist, der einen Text zum Gedicht macht – nicht dessen Inhalt oder formale Gestaltung.
Ein beliebiges Spiel?
Handkes „Aufstellung“ bezieht sich auf ein Erstrundenspiel im DFB-Pokal zwischen dem 1. FCN und Bayer Leverkusen. Am 27. Januar 1968 gewann der Club mit 2:0 – ein solides, aber unspektakuläres Ergebnis, das für den kaum überraschenden Einzug in die nächste Pokalrunde sorgte. In der Forschung wurde daher vermutet, dass Handke eine beliebige Aufstellung gewählt hat, ein genauerer Blick lässt diese Annahme jedoch fraglich erscheinen.
Am 27. Januar 1968 lief der österreichische Spieler August „Gustl“ Starek für den 1. FCN auf, dessen Name in der „Aufstellung“ links unten als einer von fünf Stürmern steht. Der 1. FCN, mit dem er in der Saison 1967/68 den Meistertitel gewann, war der erste deutsche Club, bei dem er als ausländischer Spieler aktiv war. Starek erlangte Berühmtheit für seinen Jähzorn, seinen unorthodoxen Stil und seine rebellische Haltung – Eigenschaften, die dem jungen Peter Handke (Stichwort „Publikumsbeschimpfung“) nicht fremd gewesen sein dürften.
Portrait August „Gustl“ Stareks auf Youtube
Ehe die „Aufstellung“ 1969 in Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt erschien, hatte Handke sie bereits in der österreichischen Literaturzeitschrift manuskripte veröffentlicht. Der Autor stand damals einer literarischen Strömung nahe, in der Künstler Themen aus der Popkultur aufgriffen, für die sie sich begeisterten. Populäre Medien und ‚triviale‘ Gegenstände – Kino, Popmusik oder eben Fußball – galten als Phänomene einer neuen Alltagsästhetik, die mit elitären Kunstvorstellungen brechen sollte. Die Auswahl des Spiels mit Gustl Stareks Tor zum 2:0 (in der 87. Minute) kann daher auch als bewusst gesetzte Geste der Bewunderung Handkes für ein Enfant terrible des österreichischen Fußballs verstanden werden. Für Fans, die die Namen der Spieler mit Erinnerungen und Emotionen verknüpfen, wird das Gedicht so zu einer Art sprachlichem Denkmal. Doch auch ohne Kenntnisse August Stareks und des 1. FC Nürnberg funktioniert der Text als sprachliches Kunstwerk, wie die Rezeption des Gedichts in der Forschung zeigt, die ganz eigene Wege eingeschlagen hat.
Zwischen Kunst, Fußball und Erinnerung
In einem Fernseh-Interview mit Friedrich Luft verneinte Handke 1969 die Frage, ob es sich bei Texten wie der „Aufstellung“ um „Ulk“ oder „Dada“ handle, oder ob er damit „profane Dinge des alltäglichen Lebens poetisieren möchte“. Stattdessen stellte er fest: „Diese Sachen gehören einfach zu meiner Existenz dazu; der Gedichtband sollte eine Art Wochenschau sein oder eine Art Jahresschau sein, wo alles hineinkommt in einer verdichteten Form, was mich interessiert hat“. Das Spiel vom 27. Januar 1968 hatte für ihn also eine subjektive Bedeutung – die Wahl war kein Zufall.
Gerade diese Verbindung zwischen persönlicher Relevanz und künstlerischer Bearbeitung verneint die Auffassung, es handle sich um rein „experimentelle“ Literatur. Dennoch lässt sich das Gedicht auch unabhängig von Handkes Intention als ein experimentelles Listen-Gedicht oder literarisches Ready-made lesen. Diese Mehrdeutigkeit macht die „Aufstellung“ so besonders: Sie vereint individuelle Erinnerung und künstlerische Offenheit, die Raum für vielfältige Interpretationen bietet. Gerne wird der Text in germanistischen Einführungslehrveranstaltungen behandelt, verkompliziert er doch auf spannende Weise die scheinbar einfach zu beantwortende Frage: Was ist ein Gedicht?
125 Jahre nach der Gründung des 1. FC Nürnberg bleibt Handkes Werk ein einzigartiges Zeugnis für die Verbindung von Fußball und Kunst. Für die Fans des Clubs könnte das Gedicht zu einem besonderen literarischen Erinnerungsstück werden, das die Namen von Spielern und die Atmosphäre eines historischen Spiels in kunstvoller Weise bewahrt.
"Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968" ist neben vielen anderen Originalmaterialien Peter Handkes im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek zu sehen: https://www.onb.ac.at/museen/literaturmuseum
