„Let there be Rock!“ - Zur Dokumentation lauter Populärmusik in Nürnberg 1960 - 1990

Harte Zeiten: Ausrisse aus der einschlägigen Presse-Berichterstattung seit den 1970ern (Collage: Gerhard Jochem)

Wenn in 100 Jahren ein Historiker über sein Recherche-Implantat (mit Bestell-Modul) in den virtuellen Beständen des Stadtarchivs Nürnberg zur Musikkultur zwischen 1960 und 1990 forscht, wird er den Eindruck gewinnen, dass sie hauptsächlich aus Klassik, Jazz, der regelmäßigen Tournee von Peter Alexander und Kinderchören bestand.Spuren des Aufschlagens internationaler Rockgrößen - darunter Jimi Hendrix, Led Zeppelin und The Who - sind noch seltener als Dokumente der damit verbundenen lokalen Subkultur aus Bands, Initiativen und Clubs.

Ein Test, für Archivverhältnisse lächerliche 36 Jahre nach dem Ereignis, das 7.000 Menschen in die Messehalle 1 trieb: Der Auftakt zur Europatournee von AC/DC am 26.11.1982. Die einzigen archivalischen Belege dafür, dass dieser Auftritt tatsächlich stattfand, sind drei mit aggressivem Leim auf saures Papier geklebte Zeitungsartikel in der ergänzend zur Stadtchronik geführten „Zeitgeschichtlichen Sammlung“, unsystematisch abgelegt unter den Stichwörtern „Leichte Muse“ und „Kleinkunst und Unterhaltung“, was viel über den Sachverstand des damaligen Chronisten aussagt. Grundsätzlich existiert in der Archivbibliothek noch das alternative Stadtmagazin „Plärrer“, das auch Konzertberichte brachte, sich über die Australier aber ausschweigt. Außeramtlich gibt es das chaotische Informationshack auf Internet- und Social-Media-Seiten, das selten Quellennachweise enthält.

Nicht unendlich da sein werden jedenfalls Augenzeugen des als Beispiel ausgewählten Events, um die routinemäßigen Wadlbeißereien der Nürnberger Feuilletons („Proletarier des Gewerbes“, „aufgedonnerte Mittelmäßigkeit“, „epileptische Gitarre“) geradezurücken: Für die an diesem Freitag Anwesenden - anders als in der Presse behauptet nicht mehrheitlich G.I.s und ein paar versprengte Deutsche - war die Show mit Glocke, Kanonen und dem entblößten Hintern von Angus Young ein nachhaltiges Erlebnis, denn es blieb ihnen neben dem obligatorischen Ohrenklingeln die aufbauende Erkenntnis, dass es da draußen, jenseits der Stadtgrenze, noch eine laute, bunte, aufregende, eine vogelwilde Welt gibt.

Es geht hier um viel mehr als private Nostalgie, denn der von den Amis über ihren Radiosender AFN eingeschleppte, geordnete angelsächsische Krach war ein elementarer Bestandteil der Jugendkultur gerade in Nürnberg und wirkte sich weit über die Freizeitgestaltung mit Schallplatten- und Kassettenhören oder Konzertbesuchen hinaus auf das Leben der Teens und Twens aus: Durch Habitus und Sprache definierten sie ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe, deren primäres Bindeglied die Musik war - viel intensiver als heute, wo die Jugendlichen mit manipulativen Reizen und Konsumangeboten überflutet werden.

Im fraglichen Zeitraum hatte Nürnberg auch überregional einen besonderen Stellenwert, weil die US-Soldaten wirklich stark vertreten waren, damit als Zielgruppe wesentlichen Einfluss auf die Auswahl der gastierenden Bands nahmen und so die Stadt zu einer attraktiven Location für internationale Veranstalter machten - innovationstechnisch kein Vergleich mit dem rituellen „Rock im Park“, dem jährlichen dreitägigen Zeltlager feierlauniger Pennäler mit Musikbegleitung am Dutzendteich. Diese Wandelungen sind Ursache und Wirkung eines gesellschaftlichen Umbruchs, der in einem öffentlichen Archiv dokumentiert werden muss, da er mindestens ebenso relevant ist wie der jeweils amtierende Oberbürgermeister - der in Nürnberg seinerzeit meistens Urschlechter hieß.

Dafür notwendig wäre v.a. eine konsequente Sammlung von Material privater Provenienz, nicht zuletzt aus dem Bereich der Oral History, denn die Betroffenen treten als „too old to Rock ’n’ Roll but too young to die“ allmählich in den Kreis der Zeitzeugen ein. Sie sollten an ihre ideelle Hinterlassenschaft denken, denn es ist unwahrscheinlich, dass ihre Nachkommen die Begeisterung fürs Thema teilen. Nicht in überquellenden IKEA-Regalen und unweigerlich schrumpelnden Klarsichthüllen, sondern nur einem professionell geführten Archiv ist gewährleistet, dass ihre Schätze langfristig fachmännisch erschlossen, aufbewahrt und Interessenten zugänglich gemacht werden, wenn gewünscht unter Eigentumsvorbehalt: „It’s a long way to the top …“

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