Am 30. Oktober jährt sich der Abschluss der „Vereinbarung zur Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland“ – das sogenannte Anwerbeabkommen mit der Türkei – zum 60. Mal. Die Vereinbarung kam 1961 recht unscheinbar daher, sie umfasste nur zwei Seiten und wurde ohne Begleitung durch einen Staatsakt oder Ähnliches im Bundesarbeitsblatt veröffentlicht. Dennoch: Es handelte sich um ein Dokument, das wie wohl kaum ein zweites die Bundesrepublik verändert hat - sozial, kulturell, ökonomisch. Auch Nürnberg hat sich durch den Zuzug türkischer "Gastarbeiter" gewandelt, ebenso, wie sich die anfangs so genannten "Gastarbeiter" verändert haben - manche von ihnen sind geblieben, hier sogar heimisch geworden. Einige von ihnen haben uns in Interviews ihre Geschichte erzählt. In loser Folge werden diese, zu Kurzporträts zusammengefasst, in den nächsten Wochen an dieser Stelle zu lesen (und manchmal auch zu hören) sein. Zum Auftakt jedoch soll es erst einmal um den Beginn dieser Entwicklung selbst gehen: Das Anwerbeabkommen vom 30. Oktober 1961.
Das Anwerbeabkommen mit der Türkei ist das vierte von insgesamt acht derartigen Vereinbarungen, welche die noch junge Bundesrepublik unterzeichnet. Partner sind vorrangig Staaten des südeuropäischen Raumes (1955: Italien, 1960: Spanien und Griechenland, 1961: Türkei, 1963: Marokko, 1964: Portugal, 1965: Tunesien, 1968: Jugoslawien). Schon seit 1956 verfolgen Diplomaten und hochrangige Beamte der Bundesrepublik wie auch der türkischen Regierung gezielt die Idee, mit einem Abkommen „die Hereinnahme türkischer Arbeitskräfte für die deutsche Landwirtschaft und evtl. auch für die gewerbliche Wirtschaft“ auf eine breitere und solidere Grundlage zu stellen.
Im Spätsommer 1959 berichtet das Generalkonsulat in Istanbul von einer immer weiter wachsenden Zahl an Einreisegesuchen, 1960 halten sich bereits mehr als 2.500 türkische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik auf. Ihre Zuwanderung erfolgte durch individuelle Anwerbungen oder auf eigene Initiative hin. Doch aufseiten der BRD herrscht Skepsis gegenüber einem offiziellen Anwerbeabkommen aufgrund der Erfahrungen mit anderen derartigen Vereinbarungen - denn offenbar gelingt die Steuerung der Zuwanderung, insbesondere die Anwerbung von Fachkräften und weiblichen Arbeitskräften, bisher nicht im gewünschten Ausmaß. Aber der Druck auf die Regierungen der Türkei wie auch der Bundesrepublik, den Zuzug durch ein Abkommen in geregelte Bahnen zu lenken, steigt – spätestens, als die türkische Seite auf ihre Bedeutung als NATO-Mitglied und Bündnispartner verweist, ist der Weg zu Verhandlungen über das Abkommen geebnet.
Die Initiative zum Abschluss geht also ziemlich deutlich von der türkischen Regierung aus: Großes Bevölkerungswachstum und eine wirtschaftliche Umbruchssituation, die vor allem in den agrarisch geprägten Landesteilen zu hoher Arbeitslosigkeit führt, machen die Entsendung von Arbeitskräften nach Westeuropa zu einer attraktiven Möglichkeit, um den inneren Frieden bewahren und langfristig Wohlstand für die eigene Bevölkerung schaffen zu können. Denn man erhofft sich, neben der kurzfristigen Entlastung der Arbeitsmärkte, auch längerfristig eine positive Entwicklung der eigenen Volkswirtschaft – einerseits durch die in die Heimat zurück überwiesenen Gelder der im Ausland Tätigen, die die wirtschaftliche Situation der daheimgebliebenen Familien wesentlich stärken sollten; andererseits durch die Nutzung von im Ausland hinzugewonnenen Kenntnissen und Fähigkeiten derjenigen, die nach einigen Jahren wieder in die Türkei zurückkommen und den dortigen Arbeitsmarkt mit ihrem Know-how bereichern würden.
Aber natürlich hatte auch die Bundesrepublik ein großes Interesse an der Verwirklichung des Abkommens. In Reaktion auf den eklatanten Arbeitskräftemangel der Nachkriegszeit wurden ab 1955 gezielt junge, kräftige Arbeiter für die boomende deutsche Wirtschaft gesucht. So sank bis zu Beginn der 1960er Jahre die Erwerbslosenzahl in Deutschland auf nahezu null; der weiterhin steigende Bedarf an Arbeitskräften, vor allem in Montanindustrie, Textil-, Stahl- und Eisenverarbeitung sowie der Automobilherstellung, konnte bei weitem nicht mehr allein durch den begrenzten Zustrom an italienischen Arbeitern gedeckt werden, auch fiel ab August 1961 der bis dahin stetige Zuzug von Arbeitern aus der DDR vollständig aus. Auch andere europäische Länder schlossen bilaterale Anwerbeabkommen ab und sicherten sich so (Fach-)Arbeiter für ihre aufstrebenden Industrien. Kurz: Die junge BRD befand sich Anfang der 1960er Jahre in einer europaweiten Konkurrenzsituation um die Ressource „leistungsfähige Arbeitskräfte“ – und der Abschluss bilateraler Anwerbeabkommen war ein willkommenes Instrument für Entsende- wie Aufnahmeländer, ihre Interessen in ein ausgeglichenes Verhältnis zu bringen.
Im Juli 1961 entsendet die Bundesanstalt für Arbeit vier Mitarbeiter nach Istanbul zum Aufbau einer „Deutschen Verbindungsstelle für Arbeitsvermittlung“, bevor dann Ende Oktober das Abkommen selbst unterzeichnet wird. Es gilt rückwirkend zum 1. September '61, und enthält grundsätzliche Regelungen zum Anwerbeverfahren, zur Entsendung der Arbeitnehmer nach Deutschland, zur Beteiligung deutscher Firmen und Behörden am Auswahlverfahren inklusive Gesundheitsprüfung sowie genaue Ausführungen zu Aus- und Wiedereinreisebestimmungen. Darüber hinaus werden einige Details zur Reiseorganisation der türkischen Arbeitnehmer, ihrer Verpflegung während der Reise und die Ausgestaltung der (zweisprachig abzufassenden) Standard-Arbeitsverträge festgelegt. Mindestanforderungen für die betriebliche Unterbringung im Gastland sind jedoch nicht Gegenstand der Vereinbarung; hierzu findet sich lediglich ein Passus in den Arbeitsverträgen, wo vage von „angemessener Unterkunft“ die Rede ist. Im Gegensatz zu den bisher geschlossenen Verträgen jedoch wird eine Befristung der Arbeitsverhältnisse auf höchstens zwei Jahre in die Note aufgenommen.
Bereits wenige Monate nach dem Inkrafttreten des Abkommens drängen namhafte deutsche Arbeitgeber auf die Aufhebung der Zweijahresklausel im Abkommen: Aus betriebswirtschaftlicher Sicht mache die Regelung keinen Sinn, da die soeben angelernten Facharbeiter durch das „Rotationsprinzip“ den Betrieben wieder entzogen werden, die Kosten also den Nutzen deutlich übersteigen würden. Ein weiteres Argument sind die positiven Erfahrungen mit den türkischen Arbeitnehmern, die als leistungsbereit und zuverlässig geschildert werden – die Betriebe wollen sie halten. Erst zwei Jahre später, im September 1964, kommt es zu einer Neufassung des Abkommens, aus der die leidige Zweijahres-Rotation verschwindet und außerdem endlich präzisiert wird, was unter "angemessener Unterkunft" zu verstehen ist. Die Bezeichnung "Gastarbeiter" jedoch bleibt - denn immer noch gehen alle Beteiligten davon aus, dass die gerufenen Arbeiter nach kurzem Arbeitsaufenthalt die Bundesrepublik wieder verlassen werden.
1966 erfasst die erste Rezessionswelle der Nachkriegszeit die deutsche Wirtschaft. Auch in den Anwerbezahlen aus der Türkei ist das zu spüren, kurzzeitig gehen sie deutlich zurück; betroffen sind vor allem die von der Anwerbung besonders profitierenden Branchen (Bergbau, Eisen- und Metallerzeugung und -verarbeitung, Bauwirtschaft und Textilverarbeitung). Doch ab 1970 findet wieder ein gezielter Aufbau von Qualifizierungs- und Ausbildungsmaßnahmen von Facharbeitern in der Türkei für spätere Tätigkeiten in Deutschland statt - man denkt daran, langfristig den türkischen und den deutschen Arbeitsmarkt miteinander zu verbinden. Allerdings erfolgt 1972 eine erneuter Rückschlag: Im Dezember wird mit der Türkei ein Abkommen über die Förderung der Wiedereingliederung türkischer Arbeitnehmer abgeschlossen – ein erster Vorbote für die dräuende Wende in der deutschen Anwerbepolitik. Kein Jahr später, am 23.11. 1973, folgt dann das komplette Aus: Per Fernschreiben an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg ergeht die Anweisung, „ab sofort die Vermittlung ausländischer Arbeitskräfte nach Deutschland einzustellen“. Hintergrund ist die sogenannte Ölkrise und die befürchteten negativen Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt; die „Maßnahme gilt bis auf Widerruf“.
Ausgenommen vom Anwerbestopp wird lediglich die Arbeit der Deutschen Kommission in Italien, da hier andere rechtliche Regelungen gelten. Ein weiterer wichtiger Auslöser für die – niemals zurückgenommene – Aussetzung dürfte aber vor allem der bereits seit längerem spürbare Strukturwandel auf dem deutschen Arbeitsmarkt gewesen sein: Der Niedergang alter Industrien (insbesondere Stahl- und Eisenverarbeitung, Bergbau und Textilindustrie) sowie die beginnende digitale Revolution lässt den Bedarf an ungelernten Arbeitskräften rapide absinken, während der an gut ausgebildetem Fachpersonal sprunghaft ansteigt.
Der erhoffte Rückgang der ausländischen Wohnbevölkerung bleibt jedoch aus: Insbesondere bei den Türken verschärft sich das Bewusstsein für die Unumkehrbarkeit der Entscheidung bei Rückkehr in die Türkei, vermehrt werden daher nun Familien nach Deutschland nachgeholt – es stellt sich also ein gegenteiliger Effekt ein, und die türkische Wohnbevölkerung der Bundesrepublik wächst in den folgenden Jahren nochmals beträchtlich an.