„Zu Pogromen braucht man Soldaten,
Alfred Wiener, 1919: Vor Pogromen
die mitmachen
oder
mindestens untätig zusehen“
„Wieners Warnung vor den Folgen ungezügelter antisemitischer Tendenzen war prophetisch“ [1]
Schriftliche Zeugnisse über das Pogrom in Zirndorf liegen im Stadtarchiv nicht vor, drei neu entdeckte oder wiederentdeckte Fotos im Stadtarchiv Zirndorf liefern heutzutage ein klareres Bild. Unter Bezugnahme der Aussagen, die während der juristischen Aufarbeitung des Pogroms getätigt wurden, wird im folgenden Text der grobe Ablauf des Novemberpogroms in Zirndorf skizziert.
Im Jahr 1947 wurde ein Verfahren wegen Landfriedensbruchs gegen neun Beteiligte aus Zirndorf eröffnet. Die Aussagen der Angeklagten sind durchweg widersprüchlich, wie in den Akten des Staatsarchivs Nürnberg nachzulesen ist.[2] Die Fotoserie, anhand derer sich Aussagen teilweise überprüfen lassen, besteht aus insgesamt fünf Bildern, die zu Propagandazwecken am 10.11.1938 zwischen ca. 09:00 und 19:00 Uhr aufgenommen wurden.
Am 09. November fand eine Gedächtnisfeier der SA zur Erinnerung an den Hitler-Ludendorff-Putsch im Parteilokal „Gasthaus zum roten Ochsen“ am Rathausplatz statt. Obwohl die Nachricht vom Tod des Ernst Eduard vom Rath noch während der Feier eintraf, wurde die Versammlung des SA-Sturms 4/24 nach Mitternacht friedlich aufgelöst. Erst gegen 03:00 Uhr wurde der Sturmhauptführer und Ratsherr Karl Dechant in seinem Haus von einem Mann geweckt, der ihm mitteilte, dass es nun gegen die Juden losgeht, und übergab ihm einen Zettel mit dem Befehl: „Sturm alarmieren, Synagoge anzünden, Judengeschäfte zerstören, Juden festnehmen".[3]
Nach telefonischer Rückversicherung bei der SA-Standarte beriet sich Dechant kurz mit Bürgermeister Julius Eichner. Man einigte sich darauf, die Juden festzunehmen und in einem Anwesen in der Bachstraße gefangen zu halten. Ein Abfackeln der Synagoge wurde bereits in den frühen Morgenstunden ausgeschlossen. Für Bürgermeister Eichner handelte es sich bei dem Gebäude ohnehin um "keine richtige Synagoge", sondern lediglich um einen Gebetsraum mit Wohnung.[4] Somit sprach für die Verantwortlichen vor allem der Sachwert des Gebäudes gegen eine Zerstörung. Auf spätere Anfragen der SA-Standarte, warum die Synagoge in Zirndorf nicht in Brand gesteckt wurde, erwiderte man, dass diese zu nahe an andere Wohnhäuser steht und eine Ausweitung des Brandes nicht verhindert werden könnte.[5]
Die Festnahmen wurden zwischen 06:00 und 07:00 Uhr nahezu parallel in mindestens vier verschiedenen Wohnungen von Mitgliedern des SA Sturms 4/24 durchgeführt. Gemäß übereinstimmenden Aussagen wurden die älteren jüdischen Bewohner aus ihren Betten gerissen und zur Bachstraße 18 gebracht.[6] Die Jüngeren waren wohl bereits ein paar Tage vorher aus Zirndorf geflohen, nachdem sie Drohschreiben erhielten, wie beispielsweise Adolf und Rosalie Kraus.[7]
Zwischen 08:00 und 09:00 Uhr erhielt Dechant von Bürgermeister Eichner den Auftrag, die Wohnungen der Juden zu räumen. Das erste Foto der Bilderserie zeigt somit die Räumung der Wohnung von Friedrich Krämer in der Bachstraße 11.
Obwohl die Angeklagten später behaupteten, dass sich in der Bachstraße ein wütender Mob gebildet habe, vor dem sie die jüdische Bevölkerung schützen mussten, zeigt das Foto nur Kinder und Frauen, welche die damalige sogenannte "Judenaktion“ neugierig verfolgten. Ob sich Zivilisten bei Plünderungen beteiligten ist laut widersprüchlichen Aussagen nicht mehr aufklärbar. Vor allem Dechant war in seinen Aussagen bemüht, einen "organisierten Ablauf des Pogroms" zu skizzieren. Außer Frage steht, dass Textilwaren der Firma Gustav Freising & Co. (Inh. Krämer & Lüneburger) aus dem Haus Krämers ins Rathaus gebracht wurden und nicht wie von Eichner behauptet von Frau Cilly Lüneburger am 9. November freiwillig übergeben wurden.[8]
Die Möbel wurden mit mehreren Fahrzeugen zur Synagoge gebracht und dort im Gebetssaal aufgestellt. Ob die Familie Gönninger dort noch wohnte oder bereits nach dem Einbruch in die Synagoge in der Nacht vom 04.11. auf den 05.11. nach Fürth geflohen war, ist unbekannt. Jakob Gönninger wurde zumindest am 11.11. mit weiteren Fürther Juden ins KZ Dachau gebracht (Häftlingsnummer 22006), wobei im Dachauer Eingangsbuch die Adresse der Synagoge als damaliger Wohnort angegeben wurde.[9]
Das nachstehende Foto zeigt zwar vordergründig eine verwüstete Synagoge mit Gegenständen aus den geplünderten Wohnungen. Durch die aufgestellten Bettenroste wird jedoch zusätzlich bildlich verdeutlicht, dass die jüdische Bevölkerung hier keine Bleibe mehr hatte.
Die aus Sicht der SA-Männer "siegreiche Aktion" wurde noch an der Synagoge mit einem Gruppenbild festgehalten. Das Bild vermittelt eine gelöste Stimmung und widerspricht ganz deutlich dem von der Verteidigung skizzierten Bild, dass die SA-Männer sich schützend vor die jüdische Bevölkerung stellten und den Befehl zur Räumung am 10.11.1938 nur ungern ausführten.[10] Zwar sind auch Personen in Zivilkleidung auf dem Bild zu sehen, doch es gibt Aussagen, dass SA-Männer an diesem Tag ihren Dienst in Zivil leisteten, weil die Uniformen in der Wäsche waren.
Nachdem die Räumung der Wohnungen um ca. 16:00 Uhr beendet war, entschied man, die verhafteten Juden mit einem LKW aus der Stadt zu bringen. An der Synagoge wurde ein Zwischenstopp eingelegt, wo sich die Gefangenen noch einige Kleidungsstücke aussuchen durften.[11] Daher ist anzunehmen, dass das letzte Foto am späten Abend in der Nähe der Synagoge entstanden ist, da die ältere Dame einen Mantel in der Hand hält
Bei der Frau handelt es sich um Emilie Kraus und rechts daneben sitzt ihr Ehemann, Ferdinand Kraus.[12] Das Ehepaar sowie ein weiterer Mann sind von mindestens vier SA-Männern umringt. Auch hier wird deutlich, dass die beiden SA-Männer, zwischen die der Fotograf hindurch fotografierte, seitlich beziehungsweise mit dem Rücken zur Kamera stehen. Im Gegensatz zu den vor Gericht gemachten Aussagen scheint keine unmittelbare Bedrohung von außen gegen die Juden zu bestehen.[13]
Gegen 19:00 Uhr waren die Juden aus Zirndorf bereits abtransportiert und bei der Haltestelle Gustav-Adolf-Straße an der Rothenburger Straße in Nürnberg abgesetzt.[14] Für den SA-Sturm 4/24 war die "Aktion gegen die Juden" somit beendet und man ließ den Abend mit einem geselligen Beisammensein im Parteilokal ausklingen. Die Gier einzelner Männer verleitete sie in der Nacht erneut dazu, in einzelne Wohnungen einzusteigen und weitere Gegenstände zu stehlen. Insbesondere in die Wohnung der Familie Weinstein in der Bachstraße 18, die nicht ausgeräumt wurde. Diese diente laut Aussagen der Angeklagten als Gefängnis.
Müller, Meister der Schutzpolizei, benennt 1946 jedoch den angebauten Viehstall von Weinstein als Gefängnis in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft.[15] Auch Bernhard Hahn, der bereits 1936 nach Amerika emigrierte, berichtet in seinem Brief von 1968 an die Stadtverwaltung, dass ein Stall in der Bachstraße benutzt wurde, um dort die Verhafteten festzuhalten.[16]
Polizeihauptwachtmeister Wolf kam am 10.11.1938 erst später zur Dienststelle, da in der Nacht seine Tochter geboren wurde. Bereits anwesende Kollegen teilten ihm mit, dass man sich aus der Aktion der SA herauszuhalten sollte.[17] Nachdem Wolf von den Diebstählen in der Nacht am 11.11. erfahren hatte, begann er ab dem 12.11.1938 mit Ermittlungen und erstattete Anzeige wegen Diebstahls, genau wie er es bereits eine Woche zuvor nach dem Einbruch in die Zirndorfer Synagoge getan hatte. Beide Anzeigen wurden jedoch nicht weiterverfolgt. Stattdessen regelte die SA die Angelegenheit der eigenmächtigen Bereicherung intern.[18]
Wolfs Protokolle wurden 1946 als Grundlage zur Verfolgung der Straftäter herangezogen. Die Fotos waren der Stadtverwaltung Zirndorf zu diesem Zeitpunkt bekannt. So wurden der Spruchkammer in Entnazifizierungsverfahren mögliche weitere Straftäter genannt, die auf den Fotos zu sehen waren.[19] Weder diese Hinweise noch die Fotos flossen in die Verhandlung wegen Landfriedensbruchs ein.
Das Narrativ vom Volkszorn, auf das sich die Verteidigung der Angeklagten noch 1947 stützte, wird durch die Fotos widerlegt. Bürgermeister Eichner sprach in seiner antisemitischen Rede zur Zirndorfer Bevölkerung am 17. November 1938 sogar davon, dass einige ihr „wehleidiges Herz“ bei der "Säuberungsaktion" entdeckt hätten und dass wohl die Aufklärungsarbeit über die "Gefahr des Judentums" an vielen in Zirndorf spurlos vorübergegangen sei. Lobend erwähnte er jedoch, dass die Mehrheit der Zirndorfer, mit nur wenigen Ausnahmen, den Boykottaufrufen gegen jüdische Geschäfte gefolgt ist, wie den entwendeten Kundenbüchern von Lüneburger und Krämer zu entnehmen war.[20]
Die gelagerten Möbel in der Synagoge sollten restlos entsorgt werden [21] und wurden nach einer vorliegenden Rechnung der Städtischen technischen Werke zwischen dem 19. und 23. November abtransportiert.[22] Die Synagoge selbst wurde 1942 in einem zweiten Kaufvertrag für 1.800 Reichsmark von der Stadt Zirndorf erworben.[23]
Die Angeklagten im Prozess wegen Landfriedensbruchs erhielten Gefängnisstrafen zwischen
4 Monaten und 2 Jahren. Im Urteil wurde ihnen zugutegehalten, dass das Pogrom trotz Druck von oben nicht so ablief wie in Fürth oder Nürnberg.[24] Von den 28 jüdischen Bürgern und Bürgerinnen, die am 01. November 1938 noch in Zirndorf wohnten, überlebten nur fünf Personen den Holocaust, indem es ihnen gelang, aus Deutschland zu fliehen.
Text: Patrick Waag
mit tatkräftiger Unterstützung von Sophia Rennert
Anmerkungen:
1) Barkow 2008, S. 13
2) STAN, Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Nürnberg-Fürth II Nr. 1931/I-II [Abk: StAnw LG Nürnberg-Fürth II]
3) Vgl. STAN, StAnw LG Nürnberg-Fürth II, Nr. 1931/I, Bl. 11
4) Vgl. STAN, StAnw LG Nürnberg-Fürth II, Nr. 1931/I, Bl. 52
5) Vgl. STAN, StAnw LG Nürnberg-Fürth II, Nr. 1931/I, Bl. 114
6) Vgl. STAN, StAnw LG Nürnberg-Fürth II, Nr. 1931/I, Bl. 15, Bl. 38, Bl. 116, Bl. 120, Bl. 119
7) Vgl. StA Zdf., A4.2 3552; StA Zdf., A7 1051, Drohschreiben; STAN, StAnw LG Nürnberg Fürth II, Nr. 1931/I, Blatt 52
8) Vgl. StA Zdf., A8 145, Schreiben von Bürgermeister Emmerling 20. Februar 1948
9) Arolsen Archives: Zugangsbücher des Konzentrationslagers Dachau, https://collections.arolsen-archives.org/de/document/130429474, zuletzt abgerufen am 05.01.2024
10) Vgl. STAN, StAnw LG Nürnberg-Fürth II, Nr. 1931/I, Bl. 28
11) Vgl. STAN, StAnw LG Nürnberg-Fürth II, Nr. 1931/I, Bl. 39, Bl. 114, Bl. 116, Bl. 119
12) Vgl. StA Zdf., A7 192, Pässe Ferdinand und Emilie Kraus
13) Vgl. STAN, StAnw LG Nürnberg-Fürth II, Nr. 1931/I, Bl. 120
14) Vgl. STAN, StAnw LG Nürnberg-Fürth II, Nr. 1931/I, Bl. 28
15) Vgl. StA Zdf., A8 145, Vermerk Müller 26. Juli 1946
16) Vgl. StA Zdf., A8 1498, Briefseite 3 von Bernhard Hahn am 25.12.1968
17) Vgl. STAN, StAnw LG Nürnberg-Fürth II, Nr. 1931/I, Bl. 26, Blatt 48
18) Vgl. STAN, StAnw LG Nürnberg-Fürth II, Nr. 1931/I, Bl. 1 - 9
19) Vgl. StA Zdf., A7 1064
20) Vgl. StA Zdf., E5.1 Depot Bollmann Allgemeine Rundschau
„Ortgruppenleiter Pg. Eichner sprach über die Judenfrage“, in: Allgemeine Rundschau, unabhängige Tageszeitung für Bayern, 48. Jahrgang, 19.11.1938, Nr. 277, Zirndorfer Nachrichten, S. 12
21) vgl. ebd.
22) Vgl. StA Zdf., A7 1051
23) Vgl. Eberhardt und Haas 2010, S. 780
24) Vgl. STAN, StAnw LG Nürnberg-Fürth II, Nr. 1931/I, Bl. 140
Literatur:
Barkow, Ben: Vorwort, in: Novemberpogrom 1938: Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London, Ben Barkow (Hrsg.), Raphael Gross (Hrsg.), Michael Lenarz (Hrsg.), 1. Aufl., Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2008.
Eberhardt, Barbara / Haas, Christof: Zirndorf, in: Mehr als Steine…: Synagogen-Gedenkband Bayern Band II, Wolfgang Kraus (Hrsg.), Berndt Hamm (Hrsg.), Meier Schwarz (Hrsg.), 1. Aufl., Lindenberg im Allgäu: Kunstverlag Josef Fink, 2010.