Zeitenwechsel ...
Vor 23 Jahren schrieb der Autor unter dem Titel „Wissenschaft contra Herrschaftswissen? Vom Verhältnis zwischen kritischen Archivbenutzer(inne)n und Archivar(inn)en“ in Geschichte quer, der Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten (Heft 5, 1997, S. 7 ff.), einen Beitrag, in dem er sich mit den rechtlichen Grundlagen und dem konkreten Ablauf einer Archivbenutzung im Bereich der Zeitgeschichte auseinandersetzte. Auch wenn sich seitdem die juristischen Aspekte wegen neuer Regelungen wesentlich ausdifferenziert haben, erscheinen sie aus heutiger Sicht nicht mehr als grundlegendes Hindernis für die Informationsgewinnung aus den Beständen öffentlicher Archive, zumal der Ablauf von Schutzfristen und die Änderung des Personenstandsrechts zusätzliche Quellen zugänglich gemacht haben. Zwischenzeitlich gelangten wichtige amtliche und private Unterlagen zur jüdischen Geschichte und NS-Zeit ins Stadtarchiv und wurden erschlossen. Paradoxerweise erleichtert das Aussterben der Betroffenengeneration faktisch die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, obwohl die Menschen als Zeitzeugen nicht mehr verfügbar sind.
... und Konstanten
Von unveränderter Relevanz sind die Rahmenbedingungen der Arbeit vor Ort. Der durchaus politisch gemeinte Ansatz in den 1990ern als Ausdruck von Demokratie und Wissenschaftsfreiheit war der mündige Benutzer, dem durch den Sachbearbeiter als Ansprechpartner das Werkzeug in die Hand gegeben werden sollte, um sich selbst die ihn interessierenden Inhalte erschließen zu können. Diesem Ziel entgegen standen im Zeitalter vor Datenbanken mit Millionen von Einträgen ihr Wissen monopolisierende Archivare, unzureichende Findmittel und eine undurchsichtige Beständestruktur (Tektonik), die nichts über die Herkunft der Unterlagen (Provenienz) und damit ihren Quellenwert aussagt: Bei Tausenden von Treffern mit dem Suchbegriff Krankenhaus (s.u.) ist die Kenntnis des Entstehungszusammenhangs zur Auswahl mehr denn je notwendig.
Für das Stadtarchiv Nürnberg hatte der Diplomarchivar Herbert Schmitz (1952-2014) bereits im 1990 veröffentlichten „Wegweiser zu Findmitteln und Beständen“ mit seiner erstmaligen vollständigen Systematisierung das Fundament gelegt, das sich problemlos in die digitale Ära übertragen ließ und online in der Beständeübersicht-Datenbank und der Bestände-Datenbank bis heute fortbesteht. Schon vor knapp einem Vierteljahrhundert ließ sich der Idealfall einer Benutzung orientiert an diesem Vorbild wie folgt darstellen (Beitrag 1997, S. 8):
Der Archivar muss dazu bewegt werden, die (hoffentlich vorhandenen) Beständeübersichten, Findbücher und Inventare vorzulegen und in deren Handhabung einzuführen. Wer sich trotz des hier Gesagten aus Bequemlichkeit mit der leider oft gehörten apodiktischen Aussage ‚Hamma nett!‘ zufriedengibt, der ist selbst schuld - und der betreffende Kollege sollte sich überlegen, ob er nicht besser den Beruf eines Orakels ergriffen hätte.
Ist es dem Benutzer gelungen, sich mit Hilfe des Archivpersonals in der vorhandenen Überlieferung weitgehend selbständig zurechtzufinden, so sollte der Archivar auch dann über den Fortgang der Recherchen auf dem Laufenden gehalten werden, wenn keine konkreten Probleme bei der Benutzung auftreten. Dieser braucht die Rückmeldung zur Kontrolle der eigenen Beratungsleistung und kann unter Umständen Informationen weitergeben, die ihm bei der Erledigung der Tagesgeschäfte bekannt werden (z.B. Benutzungen zu verwandten Themenbereichen, Übernahmen einschlägiger Unterlagen o.ä.).
Rundum-Service aus einer Hand?
Seit damals hat sich auf beiden Seiten viel geändert: Auch wenn man sich heutzutage über die Archiv-Website im Internet schon am heimischen Schreibtisch einen Überblick über das vorhandene Material verschaffen kann, herrscht bei der Kundschaft die Erwartungshaltung vor, am Tresen des Lesesaals aus einer Hand allumfassend bedient zu werden. Dies mag bei Fragen nach den eigenen Vorfahren oder dem Vorgängerbau des Wohnhauses realistisch sein, nicht jedoch für wissenschaftliche Recherchen mit komplexen Inhalten.
Benutzer und Personal begeben sich mit diesem Vorgehen auf dünnes Eis: Ersterer vertraut blind der Kompetenz seiner Gegenüber sowohl im Umgang mit der IT als auch bezüglich des Forschungsgegenstands, letzteres erweckt nolens volens als Herren der Datenbanken und Suchstrategien den Eindruck von Universalisten mit Kenntnissen der Stadtgeschichte vom 11. bis ins 21. Jahrhundert.
Beispiel Krankenhaus
Gefährdet wird durch diese ungünstige kommunikative Situation der legitime Anspruch des Kunden, in einem mehrstufigen Prozess zu seinem Thema möglichst alle einschlägigen Ressourcen zu finden. Doch auch das Optimum ist relativ: Die testweise Suche mit unbeschränktem Zugriff (den der Besucher nicht hat) nach dem Wort Krankenhaus im beim Stadtarchiv Nürnberg verwendeten Retrievalsystem FAUST, das diesem Text seinen Namen leiht, ergibt im Index Sachbegriffe der Beständedatenbank 3035 Treffer (Stand: Juni 2020). Hinzu kommen einige differenziertere Nennungen, z.B. einundfünfzigmal Krankenhaus Klinikum.
Ein Durchlauf mittels Volltextrecherche führt zu 4462 Fundstellen, wenn man bei der Suche Groß- und Kleinschreibung ignoriert. Berücksichtigt man diese, so bleiben 4320 übrig, also 142 weniger. Theoretisch könnte dies auf zusammengesetzte Wörter (z.B. krankenhauseigen) zurückzuführen sein, aber nicht in einer so hohen Fallzahl.
Der haupteinschlägige Bestand C 23/I Krankenhaus / Allgemeine Akten umfasst 761 Einheiten, von denen selbst im größten Suchergebnis nur 153 enthalten sind. Um sie alle zu finden, muss man andere Wege gehen, etwa über den Index Signatur.
(Teil-)Synonyma wie Frauenklinik oder Klinikum können natürlich durch die Verknüpfung oder einbezogen, ebenso das Maximalergebnis mit und oder über die Laufzeit eingegrenzt werden, doch dies verlangt die bereits genannten vertieften Kenntnisse der heutigen digitalen und einst real existierenden Welt.
Davon, dass der Forscher nach den eigentlichen Akten einer von ihm untersuchten Institution recherchiert, kann ausgegangen werden. Ob das Ergebnis vollständig ist, muss er überprüfen. Bei abstrakteren Fragestellungen ist dies in der Praxis unmöglich.
Lotsen auf hoher See
Noch fundamentaler ist die Crux, dass der Informationssuchende letztlich nicht weiß, welche Datenbanken es gibt und ob sie uneingeschränkt oder nur teilweise zugänglich sind, ganz zu schweigen von Findmitteln, die darin nicht enthalten sind, z.B. Textdateien oder rein analoge Bände. Um dies zu erfahren, muss er die Lesesaalmitarbeiter angehen oder in den digitalisierten Übersichten recherchieren, wobei die Formulierung einer Frage nach etwas, von dem man nicht weiß, ob es vorhanden ist und wie es heißt, selbst für den Nürnberger „Was bin ich“-Ratefuchs Hans Sachs ausgesprochen schwierig gewesen wäre.
Ein weiterer Gesichtspunkt des Fortschritts ist, dass weniger technikaffinen Menschen trotz allenthalben geforderter Barrierefreiheit der unmittelbare Zugang zu den Quellen so jedenfalls nicht erleichtert wird: Um in einem Findbuch oder einer Kartei zu blättern, brauchte man keine besonderen Fähigkeiten. Noch werden im Stadtarchiv Nürnberg manche Datenbankinhalte bestandsbezogen ausgedruckt, doch dabei gehen zwangsläufig quantitativ und qualitativ wesentliche Informationen verloren.
Nostalgische Sehnsucht nach dem guten alten Papier-Repertorium ist nicht angebracht, denn die Digitalisierung hat zu einem immensen Zuwachs an greifbaren Fakten geführt. Doch ebenso wie im Internet besteht die Gefahr, dass man von der schieren Menge regelrecht erschlagen wird, wenn man nicht über das Instrumentarium der Quellenkritik verfügt, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Hierbei sind sogar noch mehr als 1997 die Kenntnisse des Sachbearbeiters, also des mit dem Themenbereich vertrauten Archivars als Lotse und Vermittler unverzichtbar. Selbst das aktuell propagierte digitale Archiv, also letztlich der Zugriff nicht nur auf die Verzeichnung, sondern die Inhalte der Archivalien, wird daran nichts ändern, da die für die Bewertung nötigen Zusatzinformationen (Metadaten) in den heute verfügbaren Strukturen nicht in ausreichendem Umfang abbildbar sind, z.B. die zum Zeitpunkt der Entstehung geltende Verwaltungsgliederung. Unersetzlich bleibt das Gespräch mit dem fachlich ausgebildeten Spezialisten auch als Informationsmöglichkeit über die Überlieferung in anderen Archiven, den aktuellen Wissenstand und die daraus hervorgegangene Literatur. Außerdem kann er Kontakte zu ihm bekannten anderen Forschern herstellen. Wird auf seine Dienste verzichtet, leidet darunter unweigerlich die Qualität des Rechercheergebnisses.
Wunsch und Wirklichkeit
Das vollautomatische Archiv liegt noch in weiter Ferne - und ist ohne persönliche Beratung und Rückfrageoption auch nicht wünschenswert, weil es absehbar zu suboptimalen Resultaten führen muss, wie das Beispiel Krankenhaus zeigt.
Die technische Entwicklung der jüngeren Vergangenheit in den Archiven hat also nicht nur eine schöne neue Welt geschaffen, sondern birgt auch Risiken: Früher begann der richtig beratene Besucher seine Recherchen top down, d.h. bei einer nicht selten systematisch gegliederten Findliste mit Vorwort. Heute steht er unter Umständen zunächst vor einem Berg von Quellennachweisen, den er abtragen muss, um zum Wesentlichen vorzudringen.
Natürlich wurden Hilfsmittel wie die Beständeübersicht des Stadtarchivs in FAUST übernommen und punktuell mit den Datensätzen auf der Archivalienebene verknüpft, doch werden diese mühsame Strecke des Rückwärts-Klickens in der Hierarchie zur Bestandsbeschreibung nur die Hartnäckigsten beschreiten.
Andererseits sind die neuen Möglichkeiten, die die digitale Erschließung der regionalen Geschichtsforschung bietet, bei weitem noch nicht in vollem Umfang erkannt worden. So erlaubt eine differenziert gestaltete Erfassungsmaske für den Bestand C 31/III Ausländerpolizeiakten heute erstmals über einen eigenen Index den Zugriff auf die Wohnadressen der darin enthaltenen Personen und kann als annährend vollständiges Verzeichnis der Fremdarbeiterlager während des Zweiten Weltkriegs im Stadtgebiet dienen.
Damals wie heute von zentraler Bedeutung
Sechs der 19 Paragrafen der geltenden Satzung des Stadtarchivs regeln seine Benutzung. Dies zeigt den Stellenwert dieser Aufgabe als eine seiner Existenzberechtigungen unter dem Leitsatz Das Stadtarchiv fördert die Erforschung der Stadtgeschichte (§ 3.6), konkret durch eigene und die Unterstützung fremder Projekte im schulischen, universitären und außerakademischen Bereich. Wie vor 23 Jahren hat das sein originärer Beitrag zur pluralistischen Erinnerungskultur und freien Forschung zu sein.
Ausgehend von der eigenen Berufserfahrung steht der Erfüllung dieses Anspruchs meist nicht mehr der Archivar als Zerberus im Weg, der seine Quellen nicht preisgeben will. Stattdessen verhindern heute (wie schon früher) mitunter lückenhafte Kommunikation und die Technik bestmögliche Ergebnisse. Sie darf nicht allein die weitere Entwicklung diktieren, vielmehr müssen die Verantwortlichen immer wieder kritisch ihre Auswirkungen auf die eigene Arbeit und die ihrer Kunden hinterfragen.
In vorstehendem Text wird für die Akteure durchgehend die männliche Form verwendet. Grund hierfür ist nur die bessere Lesbarkeit. Der Autor bittet alle Benutzerinnen, Kundinnen, Archivarinnen und Mitarbeiterinnen um Verständnis.
Archivbesuche sind manchmal Frustbesuche, wenn es um die Recherche, das Herantasten an die Überlieferung zum Thema geht. Der Archivbesuch beginnt mit einem gemeinsamen Blick von Personal und Besucherin auf den Flachbildschirm. Es folgt der eigene Kampf mit den Datenbanken.
Die Ausführungen in dem Blogbeitrag sind zutreffend aus dem Benutzerleben gegriffen. Ich bin schnell an meine Grenzen gestoßen. Es beginnt damit, welcher Zugriff – Volltextrecherche, Indexrecherche – ist zu wählen und mit welchem richtigen Suchbegriff starte ich.
Bei Treffern ist es schwierig einen Kontext mit dem Bestand herzustellen. Die Orientierung in der Datenbank ist für mich nicht selbsterklärend. Wenn ich einen anderen Zugangsweg wähle, erhalte ich ein Suchergebnis mit einer anderen Trefferzahl. Jetzt ist händischer Abgleich gefragt. Bei einer dritten Recherche gibt es wieder ein anderes Ergebnis und ich bekomme nie einen verlässlichen Gesamtüberblick über die einschlägigen Quellen, was mein Ziel ist.
Das Nachschlagen in den Findbüchern (wo es diesen Überblick gibt) ist „von gestern“. Es folgt ein frustrierter Heimweg.
Der erwähnte Herr Schmitz eilte zur Hilfe, wenn er merkte, jetzt hat sie einen Durchhänger bei ihrer Recherche und freute sich mit, wenn ich bei der Benutzung voran und immer tiefer ins Thema kam.
Als Benutzerin würde ich mir eine graphische Oberfläche wünschen, die mir die Möglichkeit einer Recherche in alle Richtungen eröffnet.
Vielen Dank für Ihren Erfahrungsbericht.
Archivbesuche sollen nicht mit Frust enden, sondern befriedigenden Ergebnissen. An diesem Ziel muss ständig gearbeitet werden, da sich Überlieferung, Erschließung, Recherchewerkzeuge und Erwartungshaltung der Kundschaft immer schneller ändern.
Tatsächlich würde die Darstellung der Tektonik bis auf die Ebene der Archivalien als intelligenter Baum ganz andere Suchoptionen schaffen als die mehr oder weniger blinde Eingabe von Begriffen. Wünschenswert wäre auch, wenn dabei Synonyme automatisch mit einbezogen würden.
Die Erfüllbarkeit solcher Wünsche ist primär abhängig von der Datenbankstruktur. Deren Gestaltung muss die internen Bedürfnisse des Archivs ebenso berücksichtigen wie die der Benutzer(innen). Ihre wichtigste Schnittstelle auf dem Weg zu den Quellen bleibt noch lange das fachlich qualifizierte Personal, das Auskünfte gibt und berät.
Der Beitrag ist interessant und selbstkritisch.
Das Gespräch mit dem fürs Thema zuständigen Referenten vor Beginn der Recherche kann einem viel Arbeit ersparen, nicht nur über die Bestände, sondern auch Aspekte, an die man gar nicht gedacht hat. Das ist manchmal wie ein Seminar an der Uni.
Vielen Dank. Auch für den / die Archivar(in) ist eine von ihm / ihr betreute Benutzung, die neue fundierte Erkenntnisse erbringt, ein Erfolg.