Blau an der Esse

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was Ihr Chef wohl sagen würde, wenn Sie früh am Morgen mit zwei Maß Bier im Gepäck zur Arbeit erschienen, diese bis zur Mittagspause fröhlich geleert hätten, nur um pünktlich zu High Noon in der Schenke Ihres Vertrauens Nachschub zu holen?

Genau.

 Vor rund hundert Jahren konnten Arbeitnehmer zumindest bei einigen Vorgesetzten auf deutlich mehr Verständnis für derlei Wegzehrung hoffen, so auch die Arbeiter der dem Bayerischen Kriegsministerium unterstellten Königlich Bayerischen Gewehrfabrik in Amberg.

Hier trank jeder Arbeiter durchschnittlich Tag einen knappen Liter Bier täglich, von dem die Direktion wusste, da er den Gerstensaft in einer der beiden Bierschenken der Fabrik gekauft hatte. Es darf aber mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der tatsächliche Konsum der Rüstungsarbeiter beträchtlich höher lag, da üblicherweise bereits von zu Hause ein Quantum Trost mitgebracht und während der ersten Arbeitsstunden „verbraucht“ wurde.

Die Direktion des Staatsbetriebes war zwar nicht glücklich über dieses Laster der ihr anvertrauten Arbeiter, die ja immerhin qualitativ hochwertige Präzisionsarbeit abliefern sollten, nahm es aber hin, um noch Schlimmeres zu verhüten. So berichten manche Quellen davon, man habe das Biertrinken nur deshalb gestattet, um die Werktätigen vom Schnaps abzuhalten. Der Ausschank in eigener Regie sollte zumindest einen gewissen Einfluss der Direktion sichern und so die schlimmsten Exzesse verhindern.

Aus genau diesem Grund erfolgte der Bierausschank auch auf Rechnung der Direktion selbst, die dem Kantinenführer je Hektoliter lediglich einen Obolus von 50 Pfennig – eine kleine Aufwandsentschädigung, wenn man so will – erstattete. Gleichzeitig verlangte man im Verkauf für den Liter Sommerbier 24 Pfennig von den dürstenden Lohnempfängern – bei einem Einkaufspreis von 18 Mark je Hektoliter. Immerhin eine Gewinnspanne von sechs Pfennig je Maß, wobei an dieser Stelle wohl eher der gute erzieherische Wille – weniger Konsum dank hohem Preis – als die Begehrlichkeit nach zusätzlichem Profit im Vordergrund gestanden haben dürfte.

Die Verantwortlichen waren sich durchaus im Klaren darüber, dass die beharrlichere Sauferei in den Werkstätten gerade wegen der geforderten Qualitätsnormen nicht der wahre Jakob war. Darüber hinaus war man – nicht nur - in der bayerischen Armee dieser Zeit äußerst interessiert daran, „[…] durch Erziehung zur Mäßigkeit mitzuwirken an der Hebung der sittlichen und körperlichen Kraft des gesamten Volkes […]“. Aus diesem Ansinnen ergab sich zwangsläufig ein von beiden Seiten ganz gewiss ungewünschtes Bündnis zwischen Armee und deutscher Sozialdemokratie, da die auf Wandel durch Umsturz bedachten Genossen messerscharf heraus gearbeitet hatten, dass der unmäßige Genuss von Alkohol dem Klassenkampf höchst abträglich war.

Der Eingangsbereich der Gewehrfabrik (heute DEPRAG-Gelände) StadtAAM 102-014-001

Der Eingangsbereich der Gewehrfabrik (heute DEPRAG-Gelände)
StadtAAM 102-014-001

Das Ziel war das Gleiche, die Mittel, die die so unterschiedlichen Bundesgenossen zu seiner Erreichung einsetzten, waren durchaus unterschiedlich. Setzte die sozialdemokratische Partei eher auf langfristige (mancher würde heute sicher von „nachhaltig“ sprechen) Hebung der Bildung der trinkenden Massen des Industrieproletariats, empfahl die zuständige Feldzeugmeisterei des Kriegsministeriums ganz pragmatisch die Anschaffung von Anlagen zur Produktion von Mineralwasser und Limonade. Diese alkoholfreien Erfrischungen sollten dann so günstig feilgeboten werden, dass die Arbeiter von sich aus weniger Bier trinken würden.

Gesagt, getan.

Der Erfolg war indes in beiden Fällen mäßig. Die mit drei bzw. sieben Pfennig je Liter wirklich unschlagbar günstigen Bieralternativen wurden zwar durchaus angenommen, verdrängen konnten sie das Bier allerdings nicht. Auch die Bildungsoffensive der Sozialreformer zeigte nicht wirklich Wirkung, vielmehr kam es im Jahr 1910 zu einem regelrechten Aufstand der Biertrinkenden Massen: Ein neues „Malzaufschlagsgesetz“ der königlichen Regierung machte allen bayerischen Brauern das Leben schwer, auch der Amberger Brauerei Schieferl, die seit langem als Hauslieferant der Gewehrfabrik fungierte. Der Versuch, die gestiegenen Kosten - wie man heute so schön sagt - „an den Verbraucher weiter zu geben“, scheiterte allerdings kläglich, da sich die erbosten Arbeiter trotz Verbots zusammenrotteten, der Brauerei via Fabrikdirektion ihre Verbitterung mitteilen ließen und schroff ankündigten, in Zukunft lieber gar kein Bier mehr trinken zu wollen als die Schieferlsche Wucherbrühe in sich hinein zu schütten.

Der Sturm im Wasserglas zeigte Wirkung, die Brauerei ruderte zurück und alles blieb beim Alten - verpasste Gelegenheit.

Natürlich grübelten schon damals viele helle Köpfe über Lösungen des Alkoholproblems nach, stießen aber gerade bei der bayerischen Öffentlichkeit üblicherweise auf mildes Unverständnis. Mancher Historiker hat seither gemutmaßt, der tägliche Pegel an Alkohol sei für das Industrieproletariat unverzichtbar gewesen, um die demütigenden sozialen Bedingungen seiner Arbeitswelt zu ertragen. Dieser Verdacht mag in vielen Fällen durchaus begründet gewesen sein. Für den Durst der Gewehrfabrikarbeiter war allerdings mit großer Sicherheit kein kapitalistischer Ausbeuter mit seinen menschenverachtenden Unterdrückermethoden und unaufhörlicher Lohndrückerei verantwortlich. Den wechselnden Direktionen war es vielmehr gelungen, zumindest in der Stammbelegschaft der Fabrik eine Art „Arbeiteraristokratie“ heranzubilden, die sich in hohem Maße mit „ihrem“ Betrieb identifizierte und die hierarchischen Strukturen – die den Arbeitern selbst oft ebenfalls einen gewissen Aufstieg ermöglichten – durchaus akzeptierte.

Zielführender dürfte ein Blick auf die soziale Realität gerade der ungelernten Amberger Arbeiter der Jahrhundertwende sein. Viele hatten durchaus noch einen bäuerlichen familiären Hintergrund und mussten oft selbst schlechte Arbeitsbedingungen in einem Industriebetrieb vergleichsweise als Verbesserung empfinden. Gleichzeitig brachten sie ihre traditionellen Ernährungsgewohnheiten mit in die Stadt und zu diesen gehörte – in einschlägigen Berichten der Landärzte seit Jahrzehnten wortreich beklagt – ein mehr als reichliches Maß Bier.

Da es gerade in den Staatsbetrieben der Sozialdemokratie äußerst schwer gemacht wurde, sich zu etablieren – Mitglieder von Arbeitervereinen wurden gar nicht erst eingestellt – konnte ein wie auch immer geartetes „Klassenbewusstsein“ dort auch nicht entstehen, was es den sozialdemokratischen Rauschbekämpfern naturgemäß schwer machte, ihre Vorstellungen vom richtigen (…) Trinken in den Köpfen potentieller Wähler zu verankern.

Ein Kreuz mit der Sauferei, aber irgendwie war es halt doch schön, damals, in der guten alten Zeit …

 

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