Mein Werdegang als Club-Fan
Gastbeitrag von Thomas Dütsch, leidenschaftlicher Clubfan und ehemaliger Mitarbeiter des Stadtarchivs

Public Viewing auf dem Hauptmarkt vor Spielbeginn (Stadtarchiv Nürnberg A 63, unverzeichnete Abgabe 2023)
Das Ereignis
Ein warmes Wochenende Ende Mai 2007 in der Nürnberger Innenstadt. Zehntausende Menschen, zumeist in rot und schwarz gewandet, hatten sich versammelt und feierten gemeinsam in friedlicher, sommerlicher Atmosphäre ihren Lieblingsverein, den 1. FCN. Was war geschehen? Am 26.5. hatte der Club nach einem dramatischen 3:2 Sieg das Endspiel um den DFB-Pokal in Berlin für sich entschieden. Fast 50 000 Fans bevölkerten daher am 26./27.5. die innere Noris, um am Samstag aus der Ferne beim Public-Viewing den Verein anzufeuern. Offensichtlich gelangten diese positiven Vibes bis nach Berlin, denn der Club bezwang den VfB Stuttgart durch einen Kunstschuss des Dänen Kristiansen, der bis dahin noch nie für den Club getroffen hatte, in der Verlängerung.

Public Viewing auf dem Hauptmarkt (Stadtarchiv Nürnberg A 63, unverzeichnete Abgabe 2023)

Siegtorschütze Jan Kristiansen mit dem DFB-Pokal bei der Eintragung ins Goldene Buch der Stadt (Stadtarchiv Nürnberg A 63, unverzeichnete Abgabe 2023)
Da war viel Jubel in unseren Reihen! Ich selbst war ebenfalls nicht nach Berlin gereist, sondern befand mich unter den am Samstag angespannten, am Sonntag jedoch ausgelassen aber friedlich feiernden Fans, die ihrer Mannschaft und ihrem Trainer Hans Meyer eine fröhliche Rückkehr nach Nürnberg bereiteten.

Grenzenloser Jubel (Stadtarchiv Nürnberg A 63, unverzeichnete Abgabe 2023)
Der Stellenwert dieses Erfolges für den 1. FCN ist aber wohl nur für die Freunde des Clubs nachzuvollziehen, konnte doch der Verein 49 Jahre lang keinen Pokalsieg und keine Erstligameisterschaft mehr erzielen. Die letzte, neunte Meisterschaft errang der Club 1968, stieg erstmalig in der darauffolgenden Saison ab und etablierte sich darauf als Fahrstuhlmannschaft, deren steiniger Weg einmal sogar bis in die Niederungen der Regionalliga führte. Auch unmittelbar nach dem Pokalerfolg stieg der Club ab und wurde bald darauf zum Abstiegsrekordmeister. Typisch Club!
Ich werde zum Clubfan – in der 2. Bundesliga Süd!
Es ist viel darüber gerätselt worden, was einen Fußballanhänger, der mit Herzblut an seinem Verein hängt, ausmacht. Eine rationale Antwort gibt es hier nicht. Das Ganze spielt sich wohl eher im emotionalen Meta-Bereich ab. Im vorliegenden Fall war es bestimmt nicht der Erfolg, der mich zum aktiven Fan werden ließ. Eher ein diffuses aber hochbrisantes Konglomerat aus zurückliegendem Ruhm, regionaler Bodenständigkeit und natürlich Fußballbegeisterung das zu meiner persönlichen Kernfusion führte.
Ein erster Besuch im Stadion 1969 hatte keine Begeisterung in dem Buben, der ich damals war, ausgelöst. Es war eine fade 1:2 Niederlage gegen Hannover der ich in Begleitung meines Vaters und meines Onkels beiwohnte. Beide waren nicht fußballinteressiert, aber mein Onkel war der Meinung gewesen, wenn der Club schon mal Meister ist…
Ein paar Jahre später, als Gymnasiast, geriet ich in eine Gruppe anderer Schüler, die begeisterte
Clubfans waren. Meine Initiation war dann gleich ein Auswärtsspiel beim FC Augsburg, wo damals noch der ältere Helmut Haller aktiv war. Man fuhr mit einem Sonderzug der DB, der vollgepackt war mit lauter Clubfans. Diese hatten damals, Anfang der 1970er Jahre einen recht schlechten Ruf und so verbreitete unser Erscheinen in Augsburg Angst und Schrecken unter der Bevölkerung, was aber unbegründet war, denn es war ein zwar teils alkoholisierter, aber friedlicher Haufen, der da zum Stadion zog. Für mich als Neuling war dieses und das folgende Spiel – das der Club, glaube ich, verloren hat - jedenfalls ist er erst 1978 wieder aufgestiegen – ein überwältigendes Gemeinschaftserlebnis. Ein neuer Clubfan war geboren, der zur Zeit der Niederschrift dieses Textes mit seinen nunmehr 66 Jahren dem Verein immer noch die Treue hält (selbstverständlich als zahlendes Mitglied)!
Ein Rekordmeister im Fahrstuhlmodus
So wurde ich also Fan eines Zweitligisten und es begann jenes Auf- und Ab, das für den Club zukünftig ein typisches Merkmal sein würde. Währenddessen hatte die 1. Bundesliga sportlich wie kommerziell Fahrt aufgenommen, leider ohne den Club aus Nürnberg.
Dieser ging hierbei nicht nur leer aus, sondern wurde auch geradezu klein gehalten: Vereine, wie der FCB kauften dem Club regelmäßig Talente weg und gaben dafür manchmal betagte Spieler beim Club ab, die dort nochmal persönlich richtig absahnen konnten, bevor sie ihre aktive Laufbahn beendeten. So konnten die erstaunten Fans auch einen gewissen Uli Hoeneß im Clubtrikot bewundern, der in der Saison 1978/79 in 11 Spielen behäbig seine Kreise zog, natürlich ohne dass ihm ein Tor gelungen wäre. Ich entsinne mich noch gut an den hoenischen (Wortspiel!) Szenenapplaus, den ihm die Zuschauer bei seinem ersten Spiel für den Club bei jedem seiner seltenen Ballkontakte gewährten.
Die Stimmung im Fußballzirkus
Diese feinsinnige Reaktion des Publikums auf den Fußballopa wäre heute gar nicht mehr hörbar, denn seit Mitte der 1990er Jahre sorgt ein gleichmäßiger wie monotoner Mix aus Fangesängen und rumpelnden Beiträgen aus der ebenso schlecht klingenden wie überdimensionierten Beschallungsanlage für einen zweistündigen Geräuschpegel oberhalb der für das menschliche Gehör unschädlichen Dezibelgrenze.
Dem Fußball im Allgemeinen und dem 1. FCN im Besonderen sagt man eine besondere Zauberstimmung nach, wie sie auch beispielsweise in einem klassischen Zirkuszelt herrscht. Wenn ich zurückblicke, so trifft dies in meiner Erinnerung hauptsächlich auf die Situation in den 1970er und 1980er Jahren zu. Nein, früher war nicht alles besser, aber manches anders: Im alten Städtischen Stadion mit seiner Tribüne des Architekten Otto Ernst Schweizer, 1928 im Bauhaus-Stil errichtet, standen bis auf die Tribüne die Zuschauenden ausnahmslos auf Stehplätzen, Wind und Wetter schutzlos ausgeliefert, rauchend, und meist selbstmitgebrachten Alkohol (in Flaschen) konsumierend. Bei manchmal auftretenden Inversionswetterlagen trat dann von unterhalb des Tribünendaches eine mächtige Qualmwolke hervor, verursacht durch Tausende von nervös gepafften Zigaretten – die wahre Ursache des Klimawandels? Die damaligen Hardcore-Fans waren im Block 4 der Nordkurve situiert und setzten sich unter anderem aus den Mitgliedern des Fanclubs „Seerose“ zusammen, der sein Vereinsheim in der Bayernstraße, gegenüber des Dutzendteichs hatte. Zwar gibt es den Fanclub noch, doch haben seit Mitte der 1990er Jahre die Mitglieder der „Ultras“ die organisierte Fankultur übernommen. Waren früher noch die unmittelbaren Reaktionen der Zuschauer auf das Spielgeschehen gut zu vernehmen (Ouuh!!!), wird heutzutage die Stimmung von einem mit Megafon ausgerüsteten Einpeitscher besorgt, der mit bedauerlicherweise entblößtem Oberkörper vor dem Fanblock steht, mit dem Rücken zum Spielfeld und vom Spielgeschehen naturgemäß nichts mitbekommt. Die teils einfallslosen, manchmal unterirdischen Fangesänge waren natürlich in ihrer haarsträubenden lyrischen Ausarbeitung schon damals präsent, hatten aber noch zuweilen einen, meist unfreiwilligen, humoristischen Touch. So belegte man beispielsweise die Gäste aus Fädd mit Schmährufen konfuzianischen Ursprungs: „Tsching, tschang, tschung – Scheissvereinigung!“ Oder den Anhang aus Braunschweig nicht ganz humorfrei mit: „Nieder mit dem Sachsenpack!“
Die Sicherheitssituation war, gelinde gesagt, fragwürdig bei den vielen Stehplätzen (im alten Stadion brachte man leicht 60 000 Menschen unter) die nur von ein paar aus Metallrohren bestehenden „Wellenbrechern“ getrennt waren. Trotzdem hatte ich mein schlimmstes Erlebnis in Sachen Unglück im neuen Frankenstadion (heute: Max-Morlock-Stadion), als ein alkoholisierter Fan vom oberen Sitzplatzrang der Nordkurve oberhalb des nördlichen Feuerwehrtunnels beim Versuch, in den unteren Rang zu gelangen, den Halt verlor. Ich habe noch heute die Szene vor mir, wie der Unglückliche mit rudernden Armen in den Tod stürzte. Dies war jedoch eine, wenn auch sehr tragische Ausnahme…
Der Club is a Depp – obber schee!
Die teils großartige Stimmung beim Club speist sich wohl kaum aus seinen sportlichen Erfolgen. Das zum Teil selbst verschuldete Image der Fahrstuhlmannschaft ist wahrscheinlich verantwortlich für die einzigartige ambivalente Mentalität von uns Clubberern, die uns beim geringsten Anzeichen einer sportlichen Aufwärtstendenz, den altgriechischen Luftpionieren Ikarus und Daedalus gleich, zum Himmel aufsteigen lässt, aber genauso beim Auftreten von bereits leichten Turbulenzen unseren tiefen Fall verursacht. So stieg der Club nach seinem Pokalerfolg auch gleich wieder ab und bewegt sich seitdem in der fußballerischen Belanglosigkeit. Daher ist eine gewisse Neigung zur Melancholie, ausgedrückt mit unter Tränen hervorgebrachten Verwünschungen des in Wahrheit geliebten Vereins Teil des Genoms eines typischen Clubfans. Doch trotz alledem und alledem, trotz Kommerz und alledem: Wir stehen zu unserem Club!