Fahrt in den Tod
Im März 1942 wurden 428 Nürnbergerinnen und Nürnberger zusammen mit einer etwa ebenso großen Anzahl jüdischer Menschen aus anderen fränkischen Orten vom Bahnhof Märzfeld in die 35 km südöstlich von Lublin gelegene ostpolnische Kleinstadt Izbica deportiert, die den Nazis als Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtungslager Bełzec und Sobibór diente.
Ein biederer Deutscher
Unter den Deportierten befand sich Philipp Rühl, geboren am 28.3.1888 im sächsischen Crimmitschau. Nach Aufenthalten in Frankreich und der französischen Schweiz lebte er zu Beginn des I. Weltkriegs im August 1914 als Kellner in Leipzig. Rühl diente bis 1918 als Infanterist und Funker bei der bayerischen Arendt-Abteilung 21, deren Aufgabe das Abhören des feindlichen Funkverkehrs an der Front war, wobei ihm seine Französischkenntnisse zugutekamen. Er wurde verwundet und war zuletzt Unteroffizier.
1919 kam er nach Nürnberg und heiratete hier am 19.5.1921 Alice Erlenbach (geb. 23.9.1895 in St. Petersburg / Russland). Beide Eheleute gehörten seit ihrer Geburt der evangelischen Kirche an, die Verbindung blieb kinderlos. Nachdem der Mann zunächst in der Firma eines Verwandten gearbeitet hatte, machte er sich 1925 mit einem Großhandel in Farben und Lacken selbständig. 1933 baute das Paar noch ein eigenes Haus mit Geschäftsräumen in der Herzog-Bernhard-Straße 136.
Dieser typische Lebenslauf eines rechtschaffenen Bürgers seiner Generation galt dem Rassenwahn der Nazis nichts. Nach ihrer Machtübernahme klassifizierten sie die Rühls gemäß den Nürnberger Gesetzen als Juden, weil die Eltern von Alice vor der Taufe dieser Konfession angehört hatten. Bei Philipp war zwar nur die Mutter vom Judentum übergetreten, doch machte ihn nach NS-Definition seine Heirat mit einer Volljüdin zum Geltungsjuden. So gerieten auch die christlichen Eheleute in das Transitlager, nachdem ihre Bemühungen um eine Emigration in die USA gescheitert waren.
Der letzte Brief
Im Mai 1965 wurden dem Stadtarchiv Nürnberg Kopien von Unterlagen zu Philipp Rühl und ein Repro seines Fotos vom Januar 1939 übergeben. Sie stammten vom nichtjüdischen Zweig seiner Familie. Ein äußerst seltenes Dokument zur Geschichte der Schoa ist sein letzter Brief, den er an einen Neffen schrieb, der an der Ostfront stand (Signatur E 1/1491 Nr. 1), denn darin schildert Rühl verblüffend offen die Zustände in Izbica. Möglicherweise musste der Text nicht die Zensur durchlaufen und wurde persönlich überbracht. Ansonsten haben sich von den dorthin Verschleppten meist nur Postkarten mit durch die SS vorgegebenen nichtssagenden Floskeln erhalten.
Der zu diesem Zeitpunkt vierundfünfzigjährige Weltkriegsveteran schrieb:
Izbica, den 14. April 1942
Lieber Karl!
[...] Nun sind wir seit etwa 3 Wochen hier. Unsere Behausungen waren früher „Wohnungen“ von polnischen Juden. Du wirst inzwischen auch viel Dreck und Unrat gesehen haben, aber das, was wir hier vorgefunden haben, dürfte den Gipfel von allem darstellen. Nun, in emsiger Arbeit haben wir immerhin gewisse hygienische Grundlagen geschaffen. Wenn es uns nicht fast vollständig an allem benötigten Material und Werkzeug fehlen würde, wären wir schon viel weiter. Aber, wie gesagt, es fehlt am Notwendigsten, z.B. am Holz zum Bau von Latrinen, eine Sache, die hier unbekannt war! Dies, trotzdem die Leute sehr eng zusammengewohnt hatten [...]. Mit Arbeitsgelegenheit sieht es leider sehr schlecht aus. Das ist der trübste Punkt, denn wovon soll man leben!
Zunächst mussten die mitgebrachten Lebensmittel herhalten. Dann ging das Verkaufen von Sachen los. Damit ist es aber jetzt zu Ende, weil das nicht mehr sein darf. Wir haben den Großteil unserer Habe zusammenlegen müssen. Damit soll unsere Ernährung sichergestellt werden [...].
Unsere Behausungen sind recht eng. Wir sind z.B. 16 Personen in einem Raum von 22 qm Größe. Abgesehen von Wanzen und Flöhen wohnen wir gesund. Die meisten wohnen aber zu ebener Erde mit schlechten oder gar keinen Böden und leiden deshalb unter der Feuchtigkeit. Vielfach sind auch Ratten da. Das Wasser ist nur abgekocht trinkbar. - Alles ist hier sehr teuer [...]. Nun, wir wollen hoffen, dass mit Abgabe der Sachen wirklich eine Sicherung unserer Ernährung erreicht wird. Wir haben das nicht in der Hand, sondern die SS und die Geheime Staatspolizei, denen wir ja in jeder Beziehung unterstellt sind [...]. Die Hauptsache bei allem ist, dass wir gesund sind, wenn wir auch den Riemen inzwischen enger schnallen mussten [...].
Wir hoffen, dass Du durch alle Fährnisse des Krieges glücklich hindurchgekommen bist und dass es dabei bleiben wird. Grüße bitte alle, denen Du schreibst, und sei selbst herzlich gegrüßt von Deinen
Onkel Philipp und Tante Alice
Unter die beiden Namen fügte der Verfasser noch einen geschwungenen Schlussstrich ein.
Mörderische Lügen
Rühls Bericht zeigt in erschütternder Weise, wie es den Nazis bis zum Ende gelang, ihre arglosen Opfer zu täuschen: In der Heimat hatte man sie belogen, ihre Abwanderung diene der Neuansiedlung außerhalb des Deutschen Reichs. In Wirklichkeit interessierte sie nichts weniger als die Lebensbedingungen der bereits zum Tode Verurteilten, deren Situation sich immer dramatischer verschlechterte: Von den etwa 26.000 sukzessive in Izbica zusammengepferchten Menschen kamen 3000 bereits dort an Hunger, Typhus und bei willkürlichen Erschießungen um. Der Rest wurde bis April 1943 in Bełzec oder Sobibór vergast. Aus Nürnberg und Franken überlebte im Gegensatz zu den Deportationen nach Riga-Jungfernhof (29.11.1941) und Theresienstadt (10.9.1942) niemand.
Am 4.3.1947 erklärte das Amtsgericht Nürnberg Alice und Philipp Rühl für tot. Als juristisches Sterbedatum wurde der 29.9.1942 festgelegt.
Hinweise
Auf dem YouTube-Kanal der Stadt Nürnberg zeigt das Stadtarchiv eine Slideshow zur Deportation nach Izbica.
Auf weitere Beispielbiografien und den aktuellen Forschungsstand zu Izbica geht ein Beitrag im Internetforum haGali.com ein.
[…] Linktipp: Zum 80. Jahrestag der Deportation von Nürnberg nach Izbica am 24. März 1942: „Abgesehen von … […]