Gastbeitrag von Harald Kaiser, ehemaliger Kicker-Sportjournalist und Autor
Es war ein Spiel, das Geschichte schreiben sollte. Am 27. Oktober 1984, einem herbstlichen Samstagnachmittag, führte der 1. FC Nürnberg in der 90. Minute des Zweitligaheimspiels gegen Rot-Weiß Oberhausen mit 1:0, als RWO-Torhüter Wolfgang Kleff mit einem langen Pass in die Tiefe die Nürnberger Abseitsfalle übertölpelte und Angreifer Dieter Allig plötzlich freie Bahn zum Tor hatte. Sekunden später fiel das 1:1.
Schlusspfiff, erneut kein Sieg. Endzeitstimmung machte sich breit im Städtischen Stadion, ein wütendes Pfeifkonzert der nur noch 8000 Zuschauer scheuchte die Mannschaft um Torjäger Dieter Eckstein in die Katakomben.
Das Experiment schien gescheitert. Trotz des blamablen Abstiegs aus der Bundesliga 1983/84 mit 14:54 Zählern ohne einen einzigen Auswärtspunkt hatte der erst 33-jährige, wenige Monate zuvor ins Präsidentenamt gewählte Gerd Schmelzer am gänzlich erfolglosen Trainer Heinz Höher festgehalten und stattdessen die Mannschaft radikal umgekrempelt. Doch statt wie erhofft von Anfang an in der Spitzengruppe mitzumischen, krebste der Club nach 13 Spieltagen im grauen Zweitliga-Mittelmaß herum.
So weit, so unstrittig. Das, was danach passierte, schildern die Betroffenen mit dem Abstand von vier Jahrzehnten völlig unterschiedlich. Beginnen wir mit Hans Dorfner. Der vor Saisonbeginn vom FC Bayern ausgeliehene Stürmer war von Höher zunächst als Manndecker, danach im Mittelfeld aufgeboten worden. Gegen Oberhausen hatte der schmächtige Oberpfälzer den Club in der 23. Minute in Führung geschossen, nun hockte er genau wie die anderen Spieler mit hängendem Kopf auf der Kabinenbank. Irgendwann habe Höher den Raum betreten, erzählte Dorfner im Buch „Die Legende vom Club“, dem Standardwerk über die Geschichte des FCN, und exakt sieben Worte zur Mannschaft gesagt: „Morgen früh um sechs Uhr wird trainiert.“
Stockfinster sei es gewesen am Sonntagmorgen am Nürnberger Valznerweiher, so Dorfner weiter, „als uns Höher zum Laufen schickte. Eine Stunde lang trabten wir durch die Dunkelheit, danach saßen wir stocksauer in der Umkleidekabine, bis einer der älteren Spieler sagte: Das lassen wir uns nicht mehr bieten“. Einstimmig sei beschlossen worden, mit der Kritik am unnahbaren Trainer an die Presse zu gehen und seine Ablösung zu fordern. Am folgenden Nachmittag, Montag, 29. Oktober, hätten die erfahrenen Profis Udo Horsmann, Stefan Lottermann, Rudi Kargus, Horst Weyerich und Thomas Brunner den offenen Brief der Mannschaft an die Sportredaktionen der Nürnberger Tageszeitungen übergeben.
Höher selbst, der den FCN in der Winterpause der Abstiegssaison 1983/84 übernommen hatte, hat diese, Dorfners Version der Geschichte bestätigt – im Groben. Nur ein einziges Mal bis zu seinem Tod im November 2019 vermochte sich der große Schweiger zu öffnen, für das 2013 erschienene Buch „Spieltage – Die andere Geschichte der Bundesliga“, auch wenn er bestimmte Ereignisse darin sehr einseitig, bisweilen sogar stark verzerrt darstellt. Höher erklärt, er habe am Sonntag, dem Tag nach dem Oberhausen-Spiel, beim normalen spätvormittäglichen Auslaufen einen Trainingsplan aufgehängt, auf dem es hieß: Montag 7 Uhr Training. „Trainer, da ist ein Fehler im Plan“, habe Torhüter Rudi Kargus zu ihm gesagt. „Da steht Montag 7 Uhr.“ Und er habe nur geantwortet: „Das ist kein Fehler.“
So hätten sich die Club-Profis also am Montag, zwei Tage nach dem Oberhausen-Spiel, zu einem einstündigen Straftraining in der Morgendämmerung versammelt. Er, Höher, sei wortlos am Rande gestanden und habe die Laufrunden gezählt, „denn“, so der Fußballlehrer, „mit wem der Ball nicht spricht, mit dem muss ich auch nicht sprechen“.

Trainer Heinz Höher (Foto: Herbert Liedel)
Auch Dieter Eckstein kann die Sätze, die Höher in vier Jahren Zusammenarbeit mit ihm persönlich gewechselt hat, an ein paar Händen abzählen. Der junge Angreifer hatte die Amateure des FCN 1983/84 in seinem ersten Jahr am Valznerweiher mit 31 Treffern in die damals drittklassige Bayernliga geschossen, ehe er zum Profikader stieß. Beim 1:1 gegen Oberhausen war er in der 66. Minute ausgewechselt worden und hatte die restlichen rund 25 Minuten von der Bank aus verfolgt, auch das 1:1 unmittelbar vor dem Schlusspfiff. „Danach saßen wir alle enttäuscht in der Kabine“, sagt Eckstein. Von einer Ankündigung Höhers, ob nun mündlich oder per Aushang, am nächsten oder am übernächsten Tag werde noch vor Sonnenaufgang trainiert, weiß der zweitbeste Torschütze der Nürnberger Bundesligageschichte nichts, „am Montag sollten wir ganz normal wieder antreten“.
Mit dem Brief, den die Wortführer der Rebellion am Nachmittag des 29. Oktober den Sportredaktionen der Nürnberger Zeitungen überreichten, vereinen sich die drei unterschiedlichen Geschichten Dorfners, Höhers und Ecksteins wieder zu einer gemeinsamen.
Nur fünf Spieler, Reiner Geyer, Frank Nitsche, Rudi Stenzel, Fred Klaus und Neuprofi Eckstein, fanden sich zum Montagstraining ein, alle anderen boykottierten die von Höher geleitete Einheit und bereiteten sich selbstständig auf das Auswärtsspiel bei Alemannia Aachen am folgenden Freitagabend vor. Daraufhin rief Präsident Schmelzer jeden einzelnen Spieler zu sich, unterhielt sich mit ihm über die Vorgänge und sprach schließlich die Kündigung aus – überraschenderweise nicht für den Trainer, sondern für sechs Profis, für die von ihm als Rädelsführer der Rebellion ausgemachten Horsmann, Weyerich, Kargus, Lottermann und Brunner, dazu für Manfred Walz und Detlef Krella. Brunners Kündigung musste Schmelzer wenig später zähneknirschend zurücknehmen – der Club hatte den Transferwert des Junioren-Weltmeisters von 1981 als Sicherheit an seine Hausbank in Wunsiedel verpfändet.
Mit einer mit Jugend- und Amateurspielern aufgefüllten jungen Elf mit einem Durchschnittsalter von rund 21 Jahren unterlag der Club im Spiel eins nach der Revolte in Aachen mit 1:2. Eine Niederlage, die zur Geburtsstunde einer neuen, begeisternden Mannschaft wurde. Mit dem von Höher zum Spielmacher umfunktionierten Dorfner und dem neuen Publikumsliebling Eckstein legte der FCN eine Rückrunde mit 29:9 Punkten hin und schaffte durch einen 2:0-Sieg im Saisonfinale gegen Hessen Kassel sensationell den Wiederaufstieg in die Bundesliga.

Empfang der Stadt für den 1. FCN anlässlich dessen Wiederaufstiegs in die 1. Bundesliga am 11. Juni 1985 (Stadtarchiv Nürnberg C 85/V Nr. 1 / 61)
Höher blieb noch weitere drei Jahre Trainer „seiner“ neuen Mannschaft, für die es in der Tabelle Stück um Stück nach oben ging, bis auf Rang fünf in der Saison 1987/88. Dorfner, Eckstein und der junge Stefan Reuter schafften den Sprung in die deutsche Nationalmannschaft.
Der Höhenflug der Milchgesichter endete 1988 mit dem Wechsel der beiden Leistungsträger Reuter und Roland Grahammer zum FC Bayern. Und in einem letzten Punkt sind sich Dorfner und Eckstein wieder absolut einig. „Alles, wirklich alles wäre möglich gewesen, wenn diese Mannschaft zusammengeblieben wäre“, meint Dorfner, und Eckstein stimmt ihm zu: „Mit den beiden hätten wir schon 1989 Meister werden können.“