Aus Geschichtsforschung wird Forschungsgeschichte: Das Projekt „Luftkrieg in Nürnberg“ 2003 - 2005

Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man den eigenen Namen in den Akten der Altregistratur seiner Dienststelle liest: Anlässlich des Gedenkjahres 2005 gab die Stadt Nürnberg bereits 2003 ihrem Archiv vorausschauend Mittel für das Forschungsvorhaben „Luftkrieg in Nürnberg 1942 - 1945“ und übertrug ihm die Koordination der einschlägigen Aktivitäten. Die Ziele der hierfür geschaffenen Projektgruppe mit drei externen Mitgliedern unter der Leitung einer Stammkraft, unterstützt von einer festen Mitarbeiterin, waren ambitioniert und neben den laufenden Dienstaufgaben nur in echtem Teamwork mit viel persönlichem Engagement der Beteiligten zu erreichen: Bis zum Stichtag 2. Januar 2005 sollten eine grundlegende Publikation entstehen (Michael Diefenbacher, Wiltrud Fischer-Pache (Hg.): Der Luftkrieg gegen Nürnberg. Der Angriff am 2. Januar 1945 und die zerstörte Stadt. Konzeption und Koordination Gerhard Jochem. Mit Beiträgen von Hendrik Bebber, Michael Kaiser, Nicole Kramer, Harald T. Leder, Danièle List, Georg Seiderer u. Melanie Wager. Katalogteil Helmut Beer. Nürnberg 2004. ISBN 3-87707-634-3, 788 S.) sowie für die Nachwelt schriftliche, visuelle und mündliche Überlieferung systematisch gesammelt und erschlossen werden, um die lückenhaften amtlichen Unterlagen zu ergänzen und durch Berichte der Betroffenen mit Leben zu erfüllen. Dabei betrat das Stadtarchiv im Umgang mit Zeugnissen der „Oral History“ hinsichtlich Methodik der Erhebung und Aufbereitung Neuland.

Nach der Zusammenstellung der vorhandenen Quellen und Literatur in einem Inventar begann im Oktober 2003 mit einem Aufruf in der Presse die Suche nach Material privater Provenienz. Das Feedback war überwältigend: Um sich selbst als Zeitzeug(inn)en oder Dokumentationsgut zur Verfügung zu stellen, meldeten sich 434 Menschen (250 Frauen und 184 Männer). Vor diesem Schritt in die Öffentlichkeit war ein differenzierter Fragebogen mit 50 Punkten entwickelt worden, der sich dabei bewährte, die Informationsangebote zügig abzuarbeiten. Von ihm wurden 316 Exemplare verschickt, 212 (67 Prozent) kamen ausgefüllt zurück.

Am Forschungsprojekt „Luftkrieg in Nürnberg“ 2003 - 2005 beteiligte Zeitzeug(inn)en der Jahrgänge 1906 - 1943

Anhand der Antworten wurde die voraussichtliche Relevanz der Erinnerungen eingeschätzt, um eine Prioritätenliste der Personen zu erstellen, die von einem Mitglied der Projektgruppe mittels eines chronologisch-sachlich strukturierten Fragenkatalogs interviewt werden sollten. Die 38 geführten Gespräche wurden digital aufgezeichnet und im Volltext transkribiert, sodass sie seitdem zusammen mit den Fragebögen sowie den in Original oder Kopie überlassenen Unterlagen im Archivbestand F 19 Dokumentationsgut zum Luftkrieg in Nürnberg gesichert und zugänglich sind. Um die einmalige Gelegenheit zu nutzen, weiteten die rund 70 Einzelfragen das Spektrum über den Luftkrieg hinaus bis in die Weimarer Zeit und die 1950er.

Von den Ergebnissen und den geknüpften persönlichen Kontakten profitierte die Allgemeinheit neben der Überlieferungsbildung und dem Buch in 2005 durch drei Panels mit Zeitzeug(inn)en und internationalen Fachleuten, darunter die zentrale Gedenkveranstaltung am 2. Januar im Festsaal des Künstlerhauses. Sie musste wegen Überfüllung geschlossen werden, ihre wichtigsten Inhalte wurden filmisch dokumentiert (Der Luftkrieg gegen Nürnberg 1942 - 1945. Nürnberger Zeitzeugengespräch 2. Januar 2005. ISBN 3-925002-92-8. DVD, Dauer 34 min), um die Beiträge der fünf Teilnehmer(innen) auch in dieser Form zu fixieren.

15 Jahre später rückt der wegen seiner verheerenden Folgen bis heute im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung fest verankerte britische Nachtangriff im Januar 1945 wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein. Insbesondere die Medien wünschen sich aussagewillige Augenzeugen der Ereignisse und zeigen sich überrascht, wenn man ihnen auf Grundlage der Einwohnerstatistik erklärt, dass sich die 2003 kontaktierte Altersgruppe (s. Grafik) mittlerweile etwa halbiert hat, die frühen Jahrgänge nicht mehr leben und die Verbliebenen sicher nicht mehr so agil sind wie vor eineinhalb Jahrzehnten. Umso wertvoller für die Geschichtsschreibung sind ihre damals archivierten individuellen Erfahrungen.

Dem beim Projekt Mitwirkenden bleibt die Erinnerung an Begegnungen mit Menschen, die ihm neue Einsichten in die Geschehnisse vermittelten - und ihn so allmählich zum ‚Sekundär-Zeitzeugen‘ werden lassen.

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