Am 30. Oktober jährte sich zum 60. Mal der Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Aus diesem Anlass veröffentlicht das Stadtarchiv Nürnberg in loser Folge einige Kurzporträts von Menschen, deren Leben durch dieses Abkommen eine entscheidende Wendung erfahren hat: Sie alle, von denen wir berichten, sind aus der Türkei nach Deutschland gekommen, sind geblieben - und die meisten von ihnen sind hier auch heimisch geworden. Sie sind türkische Nürnberger.
Wie so viele andere zählt auch Herr B., als er 1971 in die Bundesrepublik einreist, zu den Arbeitsmigranten, den sogenannten „Gastarbeitern“ – und trotzdem ist diese Bezeichnung für ihn höchstens zur Hälfte zutreffend, denn eigentlich hat er einen anderen Grund, um die Türkei Richtung Deutschland zu verlassen: die Liebe.
Mehmet Ali war 1945 in Istanbul als Sohn eines Buchhändlers und einer Lehrerin zur Welt gekommen und dort, gemeinsam mit dem jüngeren Bruder, im großstädtischen Umfeld aufgewachsen: ein Leben mit Musik und Kunst, Kino, Theater, Basketballspielen im Verein. Er ergreift den Beruf eines kaufmännischen Fachangestellten und ist auch politisch aktiv, er engagiert sich in der sozialdemokratischen Partei CHP. Schließlich verliebt er sich in seine spätere Frau Ergün – die ihn aber schnell vor die Wahl stellt: „Ich war damals mit meiner jetzigen Ehefrau verlobt und sie wollte unbedingt nach Nürnberg kommen, weil ihr Bruder schon hier gelebt hat. Ich war zwar dagegen, aber sie drohte mir, dass sie mich dann nicht heiraten würde.“
Man muss sich seinen Aufbruch 1971 nach Deutschland also relativ zähneknirschend vorstellen; tatsächlich lässt er Bruder und Mutter in Istanbul zurück, die beide kein Interesse an einem Arbeitsaufenthalt in Deutschland haben, und tröstet sich mit dem Gedanken, dass es sich um eine Episode von längstens fünf Jahren handeln würde. Seine Frau – sie haben noch in Istanbul geheiratet – ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Monaten in Nürnberg und lebt bei ihrem Bruder, der Schwägerin und deren zwei Kindern; auch Mehmet Ali bezieht dort für die nächsten drei Monate Quartier. Die Einreise gestaltet sich unproblematisch, da er eine Anforderung als Arbeitskraft von der Firma Kiefer vorweisen kann – der kaufmännische Fachangestellte muss also zunächst als Glas- und Gebäudereiniger arbeiten, um Visum und Arbeitserlaubnis zu erhalten. Die Begeisterung für die neue Umgebung hält sich entsprechend zunächst auch in recht engen Grenzen: „Das erste was ich dachte war: ‚Warum bin ich bloß hier?‘. Mir kam Nürnberg wie ein Dorf vor im Vergleich zu Istanbul.“
Die äußeren Rahmenbedingungen ändern sich jedoch recht schnell. Die B.s können bereits nach drei Monaten eine Wohnung zur Untermiete bei einem griechischen Ehepaar beziehen, auch findet sich für Mehmet Ali nun eine seiner Ausbildung angemessene Arbeit als kaufmännischer Fachangestellter – seine Zeugnisse werden umstandslos anerkannt. Das Ehepaar besucht zusammen mehrere Sprachkurse, und auch das erste Kind lässt nicht lange auf sich warten. Für die junge Familie nun eine geeignete Wohnung zu finden gestaltet sich zwar durchaus als schwierig, wie Herr B. im Rückblick noch angibt, aber die Aufnahme durch Arbeitskollegen und Nachbarn schildert er als „gut“ – und betont, dass gerade anfangs auch die Wiederaufnahme seiner politischen Betätigung in der sozialdemokratischen Partei Halt gegeben hat.
Herrn B.s weiteres Leben in Nürnberg ist geradezu durchzogen von dieser Erfahrung der frühen Jahre: Er wird 1978 in den Ausländerbeirat gewählt und gehört dem Gremium bis 1997 an, von 1984 bis zu seinem Ausscheiden fungiert er sogar als dessen Vorsitzender. Er nimmt die deutsche Staatsbürgerschaft an und tritt in die SPD ein. Unermüdlich setzt er sich als Mittler zwischen den Kulturen ein; im Jahr 1997 ist er einer der Mitbegründer der Initiative zur Förderung der Städtepartnerschaft zwischen Nürnberg und Antalya IN-SAN, im Jahr 2000 übernimmt er auch deren Vorsitz. Unter anderem für sein Engagement als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt für ausländische Strafgefangene wird Mehmet Ali B. ein Jahr später mit der Bürgermedaille der Stadt Nürnberg ausgezeichnet – als „Vorbild für Engagement und Integration“ und „Brückenbauer zwischen Ausländern und Deutschen“ (OBM U. Maly) gelobt, findet er öffentliche Anerkennung in der Stadt, die er nun als seine Heimat bezeichnet. Er fasst sein Verhältnis zu Istanbul und Nürnberg in folgenden Worten zusammen: „Nicht sehr viel verbindet mich zu meiner Herkunftsregion, zum Urlaub machen ist es schön, aber leben könnte ich dort nicht mehr. Aber Nürnberg: Ich lebe schon seit 36 Jahren hier und in Istanbul waren es nur 26 Jahre und ich habe mein Leben hier aufgebaut. Meine Familie lebt hier und dort habe ich keinen mehr.“
Das Porträt beruht auf dem Fragebogen, den Herr B. im Jahr 2007 für das Stadtarchiv ausgefüllt hat, sowie auf einigen weiteren Dokumenten und Dokumentationen über ihn, archiviert unter der Signatur F21-31. Zu einem ausführlichen Interview kam es damals leider nicht. Herr B. ist 2014 verstorben und wurde in Nürnberg unter großer Anteilnahme beigesetzt.