„Abriß des uralten Dianen-, nachmals aber zu St. Margareth benannten Tempels, nächst an dem kaiserlichen Schloß auf der Reichs-Vesten zu Nürnberg“ - wer die Unterschrift dieses Kupferstichs liest, traut seinen Augen nicht. Hielt man den „Heidenturm“ der Kaiserburg tatsächlich, wie der Name es ja andeutet, für einen später christianisierten römischen Dianatempel? Aber war mit „Diana“ hier überhaupt die römische Göttin gemeint?

Die Sagen über eine römische Gründung Nürnbergs sind eine Frucht des 15. Jahrhunderts, als Nürnberg die alten Römerstädte Augsburg und Regensburg endgültig eingeholt und überholt hatte und sich jetzt, verstärkt durch die Begeisterung des Humanismus für klassische Kultur, eine ebenso eindrucksvolle römische Vergangenheit zulegen wollte. Nicht zufällig ist der erste Hinweis auf eine Gründung Nürnbergs durch Tiberius (oder Drusus) Nero in der Schedelschen Weltchronik zu finden. Über einen „Dianatempel“ als Vorläufer des Heidenturms spricht dagegen die Nürnberger Chronik des Benediktinermönchs und Frühhumanisten Siegmund Meisterlin: Die kriegerischen Ostfranken hätten den Kriegsgott Mars verehrt und, da zum Kampf auch Klugheit gehört, auch die Göttin der Weisheit „Dianem, die sollte sein eine reine Jungfrau, genannt auch Vesta, wie etliche sprechen. Diese Diana hatte ein Sacell oder eine Kapelle zu Würzburg ..., und wie etliche geschrieben haben zu Nürnberg in dem alten Turm, wo nun die Kapelle ist und ein jungfräuliches Bild in der Mauer.“ Aber Vorsicht: Meisterlin spricht hier vom Glauben der Ostfranken, der Name „Diana“ bezeichnet also nicht die römische Göttin, sondern nach dem Vorbild antiker Schriftsteller in „interpretatio romana“ deren in etwa entsprechendes germanisches Gegenstück!

Nun sind solche Spekulationen bei dem phantasievollen Meisterlin wenig überraschend, aber auch der kritische Johannes Müllner will den römischen Ursprung des Heidenturms nicht ausschließen: „Ob nun wohl schwerlich zu glauben, daß obgedachter Turm und andere römische Gebäude bis auf unsere Zeit gedauert, so ist doch gleichwohl sonsten die Stärke und Dauerhaftigkeit der römischen Gebäude bekannt, davon noch viel hin und her in Deutschland vor Augen, und ist deswegen der Turm, so noch heutiges Tags am kaiserlichen Schloß zu Nürnberg und an der St. Margaretha-Kapelle steht, entweder doch ein altes römisches oder sonst ein uraltes Gebäude, dessen etliche alte Gesimse und abgöttische Bilder davon Zeugnis geben, wie denn Otto Frisingensis, Conradus Celtes und Aventinus schreiben, daß des deutschen Herculis Bildnis an diesem Turm gesehen werde; obwohl derselben Posten etliche Anno 1520, als man den Turm etwas abgetragen und allerlei Gefahr halb niedriger gemacht und das Schloß erneuert, herab getan worden, welches billig ihres Alters halben nicht sollte geschehen sein.“ Zum Verständnis: Der „deutsche Herkules“ war der germanische Donnergott Donar/Thor, der um seiner Kraft und seines Hammers willen von lateinischen Schriftstellern mit dem keulenschwingenden Herkules gleichgesetzt wurde – eine den Humanisten natürlich geläufige Ausdrucksweise. Hier war es nicht Diana, sondern Herkules, der hier verehrt und als Skulptur an der Gebäudewand erkennbar gewesen sein sollte – jedenfalls in beiden Fällen nicht die römische, sondern die römisch benannte germanische Gottheit, also streng genommen kein „Beweis“ für die römische Gründung Nürnbergs. Dass Müllner in diesem Zusammenhang die Beseitigung der Skulpturen im Jahre 1520 aus sehr modern anmutenden Gründen des Denkmalschutzes („ihres Alters halben“) missbilligt, ist durchaus bemerkenswert.

Der bei Müllner genannte bayerische Historiker Aventin hält Norix, den ältesten Sohn des Herkules, für den Erbauer und Namengeber des Heidenturms und Nürnbergs – und diesmal scheint es sich tatsächlich um den römischen Herkules zu handeln! Dagegen verweist Konrad Celtis, nicht ohne Skepsis, auf die umlaufenden Sagen vom Tempel der Diana (ohne nähere Bestimmung als „germanisch“, also wohl der römischen Göttin), und damit ist der Kreis der möglichen Patrone (germanischer und römischer Herkules, germanische und römische Diana) komplett.

Es erscheint kaum glaublich, dass diese Geschichtsfantasien auch noch im aufgeklärten 18. Jahrhundert fortgeschrieben wurden! In seinen „Singularia Norimbergensia, oder ... Nürnbergische Altertümer und andere vornehmlich merkwürdige Begebenheiten“ greift Lazarus Carl von Wölckern 1739 diese Spekulationen auf und sucht durch vernünftige Überlegung Klarheit in das auch ihm auffallende Chaos der verschiedenen Zuschreibungen zu bringen: Der römische Wachturm hätte die nächtlichen Wachtfeuer der feindlichen Lager beobachten sollen, deshalb sei es nur natürlich, dass der dazugehörige Tempel der Diana als Göttin des Feuers und Mondes geweiht worden sei. Mit dieser pseudo-logischen Begründung tritt Wölckern für die römische Diana als Patronin des Tempels ein. Diese Zuschreibung sucht Wölckern mit einem weiteren Argument abzustützen: dem Patrozinium der Heiligen Margarethe für die spätere christliche Kapelle, da diese ebenfalls eine Jungfrau sei.

Und was sagt der Augenschein der immer wieder angesprochenen Skulpturen? Wölckerns „Singularia Norimbergensia“ enthalten einen Stich Tyroffs, der den Heidenturm mit seinen „uralten“ Skulpturen (seitenverkehrt) wiedergibt. Eine Diana ist nicht zu erkennen; allenfalls der „deutsche Herkules“ mit Keule lässt sich mit viel gutem Willen aus einer der Figuren herauslesen, oder besser gesagt: Es lässt sich verstehen, dass diese Figur so interpretiert werden konnte. Aber dies sind nur jene Figuren, die heute noch sichtbar sind. Die im Jahre 1520 abgeschlagenen Figuren sind für immer verschollen – und schon ihr Zeitgenosse Konrad Celtis hatte beklagt, dass sie nicht mehr zu identifizieren seien.

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